Wir Analphabeten des eigenen Körpers – Eine Gesellschaft von mysophoben Misanthropen?

Spain, 4. Juni 2021 (plus Update Januar 2022)


Seit Corona in den Medien aufgetaucht ist, lese ich Kommentare von Menschen, meistens von Männern, die sich über Naturheilärztinnen, über pflanzliche Heilmittel oder über das Immunsystem lustig machen. «Das Immunsystem? Hö hö hö». Kindische, infantile Kommentare, die von noch infantileren Kommentaren getoppt werden und die Urheber wiegen sich dabei stets selbstgerecht auf der sicheren Seite. Denn schliesslich sind die meisten von ihnen sehr gut gebildete Menschen, zumindest lassen die Informationen auf ihren Profilen auf Twitter und Co. darauf schliessen. Hier zeigt sich, wie wenig die meisten von uns über den menschlichen Körper wissen. Gut, vielleicht irre ich mich ja, ich bin nur Laie. Nur erzählt das, was ich in den letzten Jahren zum menschlichen Körper gesehen, gelesen und gelernt habe – ganz abgesehen von dem, was man als ältere Frau und Mutter alleine durch ihre Lebenserfahrung weiss –, eine ganz andere Geschichte. Aber lassen wir meine Lebenserfahrung aus dem Spiel und konzentrieren wir uns einen Moment lang alleine auf die ExpertInnen.

Screenshot Action-Thriller Outbreak – 1995

Zwischen 2007 und 2017 arbeiteten Hunderte von Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt gemeinsam an einem einzigartigen Projekt, das HMP, das Human Microbiom Project. (*1) Es war und ist eines der grössten Forschungsprojekte seiner Art. Ziel war es unter anderem alle Mikroorganismen, die in und auf dem Menschen leben, zu katalogisieren und ihren Einfluss auf den menschlichen Körper zu untersuchen. Die teils bahnbrechenden Erkenntnisse aus diesen 10 Jahren sind enorm. Eines der überraschendsten Ergebnisse war – laut den Wissenschaftlerinnen, dass Mikroben mehr für das menschliche Überleben beitragen, als die eigenen Gene des Menschen selbst. Über 650 peer-reviewed Artikel wurden auf der Webseite von HMP aufgelistet, also von Expertinnen begutachtete Publikationen, tausendfach zitierte.

In der Halbzeit brachte der Sender Arte eine sehenswerte Dokumentation über den damaligen Forschungsstand, auch für Laien gut verständlich: «Was in uns lebt – Mikrokosmos Mensch.» 2012(*2).

Kurz zusammengefasst: Jeder Quadratzentimeter unserer Haut ist von mindestens 2’000 verschiedenen Lebewesen besiedelt. Mehr sind es in unseren Achselhöhlen oder Nasenlöchern. Allein auf einem Quadratzentimeter in unserer Achselhöhle leben mehr als 5 Millionen Mikroorganismen. In unserer Mundhöhle sind es Hunderte Millionen. Auf und im Menschen wimmelt es von Mikroorganismen. Ein gesunder Körper ist von Billionen von Lebewesen besiedelt, Viren, Bakterien, parasitäre Würmer, Pilze, Käfer. Mikroorganismen, 10-mal zahlreicher als unsere eigenen Körperzellen und überlebenswichtig für den Menschen. Wir würden sterben ohne sie. Und wissen als Nomaste, als Normalsterbliche, wenig bis nichts darüber. Die meisten Menschen scheinen – wenn es hochkommt – noch ein bisschen etwas Biologiekenntnisse unserer Grossmütter im Kopf zu haben.

Einige dieser Organismen greifen ja tatsächlich unser Immunsystem an, die meisten aber sichern unsere Existenz. Sie besiedeln uns und schützen uns, indem sie fremde Eindringlinge bekämpfen. Sie sind aber auch für viele andere Prozesse in unseren Körpern zuständig. Darüber wissen wir immer noch herzlich wenig.

Die Narrative, der „Dreh in den Geschichten“ die wir in den Medien serviert bekommen, gehen aber selten um die Wichtigkeit dieser Mikroorganismen für den Menschen. Es geht meistens um die Gefahren, die von ihnen ausgehen sollen. Titel wie „Neuer Killervirus auf dem Vormarsch“ sind da sehr beliebt. Seit ein paar Jahren wird immerhin thematisiert, was der Antibiotika-Overkill im menschlichen Körper anrichtet und angerichtet hat. Aber auch das leider zu selten. Im Gegenteil, täglich hören und lesen wir Horrorgeschichten über Bakterien und Viren und wie wir uns vor ihnen schützen können. Sauberkeit, Hygiene, Desinfektion. – Wer fernsieht kommt auch nicht um seine tägliche Dosis dieses sehr einseitigen «Biologie-Unterrichts» herum: Die Werbung für Seifen, Shampoos, Duschgels, Waschmittel und neue Desinfektionsmittel, «die 99% der Bakterien oder Viren töten!» Killerkeime, Killerviren! Horrorfilme über Killerviren geben hier noch einen obendrauf. Also Hände waschen, weil unsere Hände voller Bakterien sind. Und duschen und waschen und schrubben und desinfizieren, bis uns die Haut abfällt.

Die Beziehung vieler Menschen zu Mikroorganismen und zu ihrem Körper ist angstbasiert, seit Jahrzehnten. Darum tun und taten wir seit langem eher des Guten zu viel, nicht zu wenig. Das wäre heute theoretisch bekannt, evidenzbasiert, aber offensichtlich nicht in der breiten Öffentlichkeit. Und niemand scheint interessiert, daran etwas zu ändern. Der Cocktail an Substanzen, die wir unseren Körpern – und damit auch der Umwelt – täglich zumuten, ist alles andere als gesund. Nicht nur für uns Menschen, sondern für das ganze Ökosystem. Aber wen schert sich schon um diesen Hygiene-Wahn (*3)? Und unglaublicher- und unverständlicherweise setzten sich selbst die Grünen nicht mit dieser Thematik auseinander.

Ja, Corona ist ein Virus und ja, das Virus mutiert, das tun Viren seit Jahrmillionen. Dass hier aber eventuell ein Virus auf Menschen trifft, deren Immunsysteme angegriffen sein könnten, von einseitiger Ernährung, vom Feinstaub, von Chemikalien, Pestiziden in unseren Gewässern, in der Luft, in der Erde und in der Ernährung, die wir zu uns nehmen, von einem Overkill an Antibiotika, von Plastik und von Stress? Dass eventuell ein Virus auf ausgelaugte Menschen in ausgelaugten ökologischen Systemen trifft? Hier gibt es Zusammenhänge, die in der jetzt bald zwei Jahre dauernden Krisen-Panik-Stimmung nicht angesprochen werden. Gesundheitsexpertinnen, Wissenschaftler oder Ärztinnen, die sich dazu äussern werden verlacht, geächtet, stummgeschaltet, verlieren ihre Stellen. Dabei, und das ist ein wichtiger Punkt, wirkt sich diese ständige Angst, die über die Medien verbreitet wird, negativ auf unser Immunsystem aus und kann sogar zu epigenetischen Veränderungen führen. (*4).

Zudem ist erwiesen, dass Menschen aus prekären Lebenssituationen einer erheblich höheren Gefahr ausgesetzt sind, schwer an Corona zu erkranken oder daran zu sterben. Arme sind doppelt so häufig auf Intensivstationen wie Reiche. Das zeigt eine Studie des Professors für Epidemiologie, Matthias Egger, der ehemalige Leiter der Covid-Taskforce (*5): «Von den zehn Prozent der ärmsten Menschen der Schweiz mussten doppelt so viele auf der Intensivstation behandelt werden wie von den reichsten zehn Prozent. Ähnlich drastisch sind die Unterschiede bei den Todesfällen und den Infektionen. Diese Ungleichheit bleibt auch bestehen, wenn man Unterschiede wie beim Alter oder Geschlecht zwischen der armen und reichen Bevölkerung herausrechnet».

Wir sind auf dem falschen Weg, ob wir das einsehen wollen, oder nicht. Wer meint, nach Corona kümmern wir uns dann um die Klimakrise und endlich auch wieder um all die anderen Probleme in der Welt, könnte sich ganz gründlich irren. Wenn wir uns nicht jetzt sofort mit diesen Zusammenhängen auseinandersetzen und jetzt mit schon lange notwenigen Massnahmen allein schon für den Klimaschutz beginnen, dann ist nie «nach Corona».

Wenn wir so weitermachen, wie wir es zurzeit tun, dann haben wir nicht nur einzelne Menschen, die ständig sich und die ganze Welt desinfizieren wollen, sondern entwickeln uns zu einer Gesellschaft von angstbesessenen, mysophoben Misanthropen und schlagen uns gegenseitig die Köpfe ein, während weiterhin nach Öl, Kohle und seltenen Erden gebuddelt wird, weiterhin alles so läuft, wie gehabt. Die einen weiterhin schnell mal nach London oder Rom zum Shoppen jetten, oder an eine spezielle Ausstellung ins Moma nach New York, oder auf ihre Rinderfarm in Argentinien derweil immer mehr leuchtende Musk-Satelliten unseren Nachthimmel erhellen. Ja, alles hübsch klimaneutral. Was sonst in der Welt abgeht, ist immer weniger unser Problem. Wir stecken schon knietief in diesem Sumpf. Es ist Zeit sich die guten und die schlechten Seiten von Dreck mal differenzierter anzuschauen – und allem voran wie diese Themen kommuniziert werden.

Mein Update vom 20. Januar 2022:

Und mit einem lieben Gruss an Prof. Christian Drosten: Der Mensch ist kein Computer und auch kein Auto, denen man mal schnell ein «Update» verpassen kann und dann laufen die Teile wieder, wie geschmiert. Der Mensch ist keine Petrischale – und die Welt kein Hochsicherheitslabor und kein Mercedes Benz! Kann irgendjemand das dem Herrn Professor und seinen Jüngern mal beibringen?

Tweet vom 18. Januar 2022 von Prof. Christian Drosten auf Twitter:
«Ich sags ja immer: KFZ-Vergleiche!»

PS
Ich versuche, möglichst nicht polemisch zu werden. Aber es ist manchmal schwierig und manchmal geht es mit mir durch, vor allem wenn ein Professor mit grosser Reichweite extrem unterkomplexe Botschaften in die Welt setzt. – Ich kann es nicht glauben, nicht nachvollziehen, wie viele eigentlich kluge Menschen ihn geradezu vergöttern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Prof. Drosten jemals wirklich zugehört oder seine Texte gelesen haben. Warum schreiten andere Virologinnen, andere Wissenschafterinnen nicht ein? Warum lässt man ihn einfach reden, wie stolze Eltern ihren Fünfjährigen ans Klavier setzen und die Gäste langweilen, obwohl jeder einzelne Gast sich nur überlegt, wie er sich möglichst schnell und unbeschadet aus der Affäre ziehen kann, aber am Schluss klatscht? Warum? Zum Beispiel Aussagen, wie grad folgende aus dem CoronaUpdate 7/19 vom 4. Januar 2022 (*6), wie kann es sein, dass sie einfach unwidersprochen stehen bleiben und dann noch tausendfach über die Medien verstärkt?

Christian Drosten: «Ja, also genau das. Ich hatte da ja gesagt: Das stärkt vielleicht das Immunsystem genauso gut wie das Essen eines Steaks die Verdauung stärkt. Das Immunsystem ist einfach da. Das lässt sich nicht stärken. Das ist so wie die Verdauung oder die Intelligenz. Das sind so Grundfunktionen, die man hat und die kann man eigentlich nicht trainieren. Also ich kann auch nicht meine Intelligenz dadurch steigern, dass ich mir ein Rätselheft kaufe. Also diese Idee von Gehirnjogging, das mag funktionieren bei Leuten, die ihr Gehirn sonst gar nicht benutzen und bei denen mag das helfen, wenn sie regelmäßig zumindest solche Kreuzworträtsel lösen. Klar, da mag es ein Konzept für geben, aber insgesamt ist es doch so: Wir denken hier an eine Infektion. Also das ist so, wie wenn man denken würde, durch das Lesen eines Zeitungsartikels oder eines Buchs steigere ich meine Intelligenz. Das ist doch Quatsch. Das Hirn ist da und das hat eine Grund-Intelligenz.»

Mit Verlaub, Herr Professor Drosten, lassen Sie hier besser Neurologinnen reden und Immunologinnen. Das Immunsystem, genauso wie die Intelligenz des Menschen, werden vom ersten Atemzug an trainiert. Sie lernen, entwickeln sich, Tag für Tag, je nachdem womit sie konfrontiert werden. Lassen Sie sich das von einer Laie sagen, noch besser von ihren Fachkolleginnen. Wir brauchen hier endlich wirklich einen wissenschaftlichen Diskurs, der diesen Namen auch verdient.

Mysophoby: Krankhafte Furcht vor Schmutz, oder Ansteckung.


*1 Human Microbiome Project (Webseite, wird nicht mehr bewirtschaftet).
https://commonfund.nih.gov/hmp/
https://hmpdacc.org/hmp/

Kurzer Artikel im Spiegel vom 14. Juni 2012
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/mikrobiom-ueber-10-000-bakterien-am-menschen-gezaehlt-a-838739.html

*2 Arte Dokumentation -Was in uns lebt -Mikrokosmos Mensch (Doku 2012) (45’)
https://www.youtube.com/watch?v=6h-Eh-vYSs4

*3 Einen geradezu unterhaltsamer und sehr sehenswerter Dokumentarfilm von 2015: «Hygienewahn – Die Angst vor Bakterien» / SWR Doku 2015
https://www.youtube.com/watch?v=J-Kj8pvIJlg

*4 «Brisante Studie zur Pandemie: Warum Arme in der Schweiz häufiger an Covid-19 sterben.»
https://www.tagesanzeiger.ch/warum-arme-in-der-schweiz-haeufiger-an-covid-19-sterben-563912155655

5* Ärzteblatt DE, Januar 2016
https://www.aerzteblatt.de/archiv/173525/Ansteckungsangst-Vom-Gefuehl-beschmutzt-zu-sein

Stress, Angst, Panik und die Auswirkungen auf das Immunsystem auf dem Informationsportal von «Neurologen und Psychiater im Netz».
https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/news-archiv/meldungen/article/angst-wirkt-sich-auf-immunsystem-aus/

*6 https://www.ndr.de/nachrichten/info/107-Coronavirus-Update-Risiko-und-Hoffnung,podcastcoronavirus362.html