Welche Schublade darf es denn sein?

Sprachlich und vermeintlich politisch korrekt taumeln wir ignorant Richtung Abgrund.

Spain, 2023 (update 2024)

«Eine Frau wie du… also… hm… ich glaube, sie meinten, du könnest nur eine Lesbe sein.»

Es war ein seltsames Erlebnis, damals in den 90ger Jahren. Ich war neu beim Schweizerradio, arbeitete für das Regionaljournal Zürich, lernte hier mein radiojournalistisches Handwerk. SRF, damals DRS, hatte, mindestens im Studio Zürich, eine starke Frauentruppe.

Als ich nach relativ kurzer Zeit zu einem Nachtessen mit diesen Frauen eingeladen wurde, freute ich mich riesig. War es doch ein Zeichen, dass ich wahrgenommen werde, dass ich in diesen Kreis aufgenommen werden soll, dass sie sich für mich interessieren. Dachte ich wenigstens.

Richtig warm wurde es mir an diesem ersten Nachtessen nicht. Klar, da sind Frauen, die sich schon lange und gut kennen. Da sind Themen, die man schon lange diskutiert. Da sind teils alte Bande und Beziehungen. Logisch, dass es nicht vom ersten Moment an zu tragenden Beziehungen kommt. Trotzdem, ich war ja eingeladen worden? Irgendwer hatte sich dafür ausgesprochen? Aber ich fühlte mich den ganzen Abend fremd.

Ein paar Tage später kam die Ohrfeige. Ein paar Tage später eröffnete mir eine Kollegin, dass ich mir bloss nichts darauf einbilden solle. Ich sei ja nur eingeladen worden, weil ein paar Frauen herausfinden wollten, ob ich nun eine Lesbe sei oder nicht. Ein paar hätten sogar Wetten abgeschlossen: Eine Frau wie ich könne nicht nicht Lesbe sein.

Noch einmal: Diese Kollegin beschied mir, dass ich eingeladen worden sei, weil ein paar Kolleginnen herausfinden wollten, ob ich eine Lesbe sei oder nicht. «Eine Frau wie du entspricht einfach nicht der Norm».

Es waren die 90iger Jahre. Nicht die Fünfziger, nicht die Sechziger. Es waren einige, sehr gute, gestanden Journalistinnen. Es waren gebildete Frauen. Es waren Heterofrauen und Lesben. Und es waren Frauen, die bereits so bewusst waren, dass sie sich zusammengeschlossen hatten, um Änderungen in dem immer noch sehr männerdominierten Betrieb zu erreichen. Es waren eigentlich wache Frauen. Es waren Feministinnen.

Ich weiss bis heute nicht, ob das alles wirklich stimmt. Ich bin dem damals nicht nachgegangen. Ich versuchte nicht, eine der Frauen zu fragen. So etwas zu hören, ist ein Schlag in die Magengrube, es nimmt dir den Atem, haut dich um, verletzt. Aber ich wurde skeptischer, zurückhaltender und versuchte, mich auf meine Arbeit und auf die Ausbildung zu konzentrieren.

©he 2024

Mit der Zeit wurde ich trotzdem Teil dieser sehr heterogenen Truppe, gewann auch drei, vier gute Kolleginnen. Tatsache blieb, dass ich immer eher ein Fremdkörper blieb in diesem Betrieb SRG, auch, oder sogar noch stärker, als ich 1996 in die Abteilung Information nach Bern wechselte.

Offensichtlich war ich anders, aber anders als was? Ich muss schon als Kind anders gewesen sein. Ich hatte nie eine Puppe, mich interessierten bunte Kleidchen nicht, ich war gerne draussen, in Feld und Wald, auf den Bäumen. Oder ich las. Aber ich tanzte auch Ballett. Ich liebte die Bewegung, die Musik. Das Körpergefühl, wenn Musik und Muskulatur eins werden. Aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Primaballerina werden zu wollen. Das war nicht auf meinem Schirm. Das alles sind aber letztlich nur Allgemeinplätze. Viele Frauen sind so.

Meine Mutter schien ihre Probleme mit mir zu haben, sie versuchte auch immer, aus mir eine Lady zu machen. Gleichzeitig gab es nie Repressionen, wenn ich dem gewünschten Bild nicht entsprach. Wir Kinder, drei Mädchen und ein Junge, wir wurden gleichwertig behandelt, so habe ich es in Erinnerung… Bzw. habe ich keine Erinnerung dazu, weil es für mich kein Thema war. Bis 13 oder 14, als mich die Jungs zu interessieren begannen, machte ich auch keine Unterscheidung zwischen Mädchen und Jungs. Die Jungs zogen mich auf eine andere Art an, als die Mädchen. Nicht mehr und nicht weniger.

Mein Körper? Ich kann nicht sagen, dass ich ihn mochte oder nicht mochte, ich meine mein Aussehen. Es war mir einfach nicht wichtig. Ich las kein «Bravo», hatte keine Scherenschnitte an den Wänden meines Zimmers und hörte keine Hitparade. Ich hatte keine Idole. Wollte nie wie jemand anders sein. Wollte nicht, wie meine Freundinnen sein, wollte nicht endlich älter sein, damit ich in diesen Film oder den anderen konnte…

Zu meinem Glück rannten meine Eltern und Lehrerinnen damals auch nicht gleich zur Psychologin. Ich war einfach, wie ich war und war ok mit mir selber und man liess mich gewähren. Tatsächlich hatte ich aber eine sehr viel stärkere emotionale Bindung zu meinem Vater, als zu meiner Mutter. Er war mein Schutzschild. Wahrscheinlich genau so in sich gekehrt, wie ich. Aber wenn ich ein Problem an der Schule hatte, stand mein Vater da.

Wie wichtig und bestimmend für mein Leben aber die Frauen in meiner Familie für mich waren, realisierte ich erst sehr viel später. Sehr viel später wurde mir bewusst, wie sehr meine Mutter mich geprägt hatte, obwohl ich irgendwie immer genau das Gegenteil von dem tat, was sie wollte. Nicht aus Trotz. Nicht aus Rebellion. Jedenfalls war da nichts Bewusstes dabei. Wir waren zwei diametral verschiedene Persönlichkeiten. Diese unendlich schöne Frau. Immer perfekt angezogen, perfekt geschminkt, schick, modern, mondän. Immer – neben meinem Vater – ein Mann an ihrer Seite, der ihr das bot, was sie brauchte. Freiheitsliebend, unabhängig, trotzig und charismatisch. Eine perfekte Gesellschafterin. Eine perfekte Gastgeberin. Die durch und durch perfekte Frau. Nur eine Mutter, so wie Mütter im Rezeptbuch für die gute Frau beschrieben sind, das war sie wohl nicht.

Meine Mam - ca.

Dann, und sehr bestimmend, meine Grossmutter väterlicherseits, Alice. Auch sie eine wunderschöne Frau. Gross und hager. Asketisch, streng, gebietend. Ohne Parfüm und ohne Schminke. Stets gut angezogen, aber zurückhaltend, karg. Da war nie mehr als eine schöne Brosche, die einen Akzent setzte. Später ein Hauch von Hellblau in ihren weissen Haaren, mehr nicht. Aber sie lehrte mich als Zwölfjährige, wie man einen elektrischen Stecker ersetzt. Worauf zu achten ist, bei den verschiedenen Kabeln. Wie man das Kabel entmantelt und was die verschiedenen Farben der Innenkabel bedeuten. Die Wichtigkeit der Zugentlastung. Alice, meine Granny, sagte nur: «Du weisst nie, ob du einen Mann zur Seite hast, der das kann. Also lerne es selbst».

Es ist nicht nur gut zu wissen, wie man einen Stecker wechselt, es lehrt dich den Umgang mit Elektrizität. Ich kenne Frauen, viele Frauen, die nicht einmal eine Birne auswechseln würden, weil «gefährlich!». Frau kann Liebe, Mann kann Technik. Das ist das Narrativ, das Alice mir zu meinem Glück in jüngsten Jahren zerfleddert hatte.

Und Ozra, meine Grossmutter mütterlicherseits. Perserin. So gut habe ich sie nie kennengelernt. Nur eines: Wenn Liebe, wenn Sanftmut einen Namen hätte, es wäre Ozra. Sie war bei uns auf Besuch, als mein Sohn in seinen ersten drei Monaten Mühe mit Einschlafen hatte und ich junge Mutter irgendwie alles mögliche ausprobierte. Oszra nahm ihn auf die Arme und schritt mit einem eigentümlichen Gesang durch den Raum. Hin und her. Murmelnd singend. Mein Sohn schlief ein. Schier sofort. Auch wenn ich niemals so werden kann, wie sie, sie ist Teil von mir. Teil von Bewusstsein der Möglichkeiten von Menschsein.

Das sind die Grundpfeiler meines eigenen Menschseins. Pfeiler, die mir erst sehr viel später bewusstwerden. Pfeiler, die ich uns allen wünsche.

Natürlich hatte ich später als junge Frau auch eine Beziehung zu einer Frau. Es waren die siebziger Jahre! Eine Freundin aus der Frauenbewegung verliebte sich in mich und wir hatten eine Affäre. Eine kurze Affäre. Sie warf mir vor, dass ich genau so wie ein Mann agieren würde. Damit war die Sache gelaufen.

«Wie hat eine Frau denn zu sein?» Das fragte ich darum 1983 in einem Essay für eine Diplomarbeit «Das Andere» im Brief einer Emanze an eine Emanze:

«Wozu der krampfhafte Versuch, e i n e Form zu finden, eine neue Form, e i n e neue Frauenidentität? Ich weigere mich, da mitzumachen.

Früher war die richtige Frau: noch Jungfrau vor der Ehe, gebar fette Söhne, konnte zarte Tücher besticken, kochte nahrhafte Suppen und war möglichst nach der Geburt immer noch Jungfrau. Und die r i c h t i g e Frau heute? Muss sie zig Beziehungen hinter sich haben, möglichst ein bis zwei lila Mädchen auf die Welt stellen und ihren Zyklus in Einklang mit dem Mond bringen?

Oder muss sie: möglichst lila sein, politische Karriere machen, mindestens drei Abtreibungen hinter sich haben und da kommt mir nichts mehr in den feministischen Sinn?
Sind das die neuen Formen? Die einzig möglichen? Und vor allem: haben wir uns nur für eine Form zu entscheiden und Punkt?

Da kommt mir schlicht das Kotzen. Wir haben alle Rollen gespielt und diese Rollen haben wir alle nur zu gut lernen müssen – ich habe keine Lust, nun eine neue Rolle zu lernen und sie dann auf der Bühne Welt, Stadt oder Szene zu spielen.» – «Das Andere», 1983.

Ja Himmel, wie hat eine Frau zu sein? Wie hat ein Mann zu sein? Warum muss man sich etikettieren? Trotz Jahrzehnten von Frauenemanzipation scheinen wir heute – 40 Jahre später – am gleichen Ort zu stehen, manchmal dünkt mich, wir bewegen uns zurück. Ich beobachte die Frauenbewegung, Feministinnen und die Diskussionen nur noch aus der Ferne und staune, gelinde gesagt. Anstatt dass sich Menschen mehr und mehr so entwickeln können, wohin es sie bewegt, werden immer mehr Schubladen geschaffen. Von GLBT zu LGBT zu LGBTQ zu heute LGBTQIA.

Noch nichts habe ich in all diesen Zeilen über meine Schwester gesagt. Ich habe über mich selbst gesprochen. Über meine Menschwerdung. Aber meine eine Schwester, viel heftiger als ich. Intensiver. Innovativer. Konsequenter. Undiplomatischer. Irgendwann liess sie sich einen Schnauzer wachsen. Viele von uns liefen ja in den Achtzigern noch herum mit unseren Haaren unter den Achselhöhlen und an den Beinen. Aber Mona liess ein paar Jahre lang auch die Haare im Gesicht stehen. Nicht als Protest, nicht als Demonstration. Vielleicht war es ein «Ich bin anders als ihr». Vielleicht. Ich weiss es nicht. Sie trug einen Schnauz, ihre wunderschönen langen Haare, die langen, schöngeformten Nägel an ihren schönen, schmalen Händen… und ihre immer bunten, einfachen aber trotzdem schicken Kleider. – So erschien sie 1993 mit ihrer Tochter an meiner Hochzeit. Es dürfte zwischen ihr und meiner Mutter dazu Diskussionen stattgefunden haben. Das ist wahrscheinlich. Aber ich weiss es nicht. Meine Mutter behämmerte mich nicht mit Fragen danach. Meiner Mutter, der Ästhetik wohl immer ungeheuer wichtig war, anderes war doch wichtiger.

Gut, mag sein, dass ich eine etwas ver-rückte Familie habe. Mag sein. Aber alles in allem war und ist sie toleranter, als alles, was ich bisher kennengelernt habe, alle diese so wahnsinnig fortschrittlichen, feministisch durchdeklinierten Wesen.

Anstatt dass wir aufhören zu stereotypisieren, schaffen wir mehr und mehr Stereotypen. Wann schnallen wir, dass jede einzelne Frau anders ist! Anders als andere Frauen. Jeder einzelne Mann anders ist, als alle anderen Männer? Wann schnallen wir, dass es dafür bereits einen Begriff gibt? Einen sehr einfachen und schlagenden Begriff: Mensch! Der Mensch mit seinem unendlichen Potential. Der Mensch, dieser einfache kleine Begriff, der für die absolute Diversität von Menschsein steht! Aber nein, Feministinnen schiessen gegen Feministinnen und gegen den Rest der Welt und umgekehrt. – Der Peak dieses Wahnsinns kumuliert dann 2023 im Film «Barbie». Ein Film, der reaktionärer nicht sein könnte, der teils als «feministisches Werk» rezipiert wird. Was für ein unerhörter Unfug! Im Essay «Barbie – der Film» gehe ich darauf näher ein. Taylor Swift dann folgt Barbie auf den Fuss. Wo sich eine Medienwissenschaftlerin im Schweizer Fernsehen nicht schämt zu sagen, Taylor Swift habe es geschafft, die Mädchenkultur aus den Kinderzimmern zu holen und auf die ganz grossen Bühnen und damit erwachsen zu werden. Nichts gegen Taylor Swift. Sie mag eine gute Sängerin sein, keine Ahnung. Ich versuche zuzuhören, aber das haut dich nicht von den Socken. Da finde ich die Zürcher Sängerin Jessy How genauso gut. Echt jetzt!

Also die Stimme hatte ich nie gehört, bis 2024 selbst seriöse Nachrichtensender meinten, nicht darum herumzukommen, diesem «Medienphänomen» noch mehr Raum zu verschaffen. Mit Verlaub, wir sind sowas von durchgeknallt. Wir schnattern ständig von Fake-News, der wir uns erwehren müssen, sind aber unfähig, wirklichen Propaganda zu erkennen. Ich mag mich irren. Ich hoffe es. Aber für mich ist diese Taylor Swift Erzählung nichts anderes als das weibliche Pendant des amerikanischen Traums vom «Tellerwäscher zum Millionär» Narrativ. Das war keine Sternstunde der Philosophie.* Diese Sendung war nur ein weiterer Beweis dafür, wie durchgeknallt wir sind und wie sehr wir uns selber unsere eigene Durchgeknalltheit schönreden.

Anstatt dass wir Räume öffnen für alle, wo jede und jeder einfach sich selber sein kann und sich nicht andauernd nur um sich und ihr Ego dreht. Hören wir auf damit, damit wir mehr Zeit haben, uns um die Themen zu kümmern, die wirklich relevant sind: Gerechtigkeit, Ungleichheit, Hunger, Armut, Bildung für alle, Biodiversität, Klima. Hören wir auf damit, bitte, immer kleinere Räume zu schaffen. Räume, in denen wir gefälligst zu bleiben haben. Wehe, du veränderst dich, du Verräterin! Das ist meine Wahrnehmung. Himmel! Was für eine Durcheinanderwelt!

Selbstverständlich muss auch diese vertiefte Auseinandersetzung mit Sprache weitergehen. Selbstverständlich müssen wir auch und vor allem über die Sprache gegen alle diese patriarchalen Mechanismen vorgehen. Allein ein Sternchen oder Doppelpunkt und dieses Reden mit Glottisschlag durchbrechen keine gläsernen Decken und hindern gewalttätige Menschen nicht daran, alles kleinzuschlagen, was ihnen in den Weg kommt. Es ist seltsam zuzuhören, wenn eine Nachrichtenmoderatorin sich durch die Nachrichten gendert, bis ein Bericht zum Krieg in der Ukraine oder zu Israel/ Gaza kommt. Kriege lassen sich nicht gendern. Die Sprache kippt: Toxisch maskulinen Begriffe wie Sieg, Ehre und Feigheit und «kämpfen für sein Vaterland» haben wieder Hochkonjunktur.
Sprachlich und vermeintlich politisch korrekt taumeln wir ignorant Richtung Abgrund. In mir schreit es wie ein verwundetes Tier: Warum? Hören wir auf, einander und uns selbst in Schubladen zu stecken, wir verrecken darin. Buchstäblich.
Und nein, by the way, für die, die noch rätseln: Ich bin keine Lesbe. Ich mag Frauen, ich liebe Frauen. Inniglich. Aber als Sexualpartner bevorzuge ich nach wie vor einen Mann. Vorausgesetzt, er ist ein Mensch, der sich nicht ständig nur um sich selber dreht.

Kriege lassen sich nicht gendern. Die Sprache kippt: Toxisch maskulinen Begriffe wie Sieg, Ehre und Feigheit und «kämpfen für sein Vaterland» haben wieder Hochkonjunktur.
Sprachlich und vermeintlich politisch korrekt taumeln wir ignorant Richtung Abgrund. In mir schreit es wie ein verwundetes Tier: Warum? Hören wir auf, einander und uns selbst in Schubladen zu stecken, wir verrecken darin. Buchstäblich.

*Keine Sternstunde der Philosophie:


Nachtrag September 2024 (Und gleichzeitig ein wichtiger Lesetipp!):

Auch dieses Essay hier lag jetzt monatelang in der Schublade. Und just als ich es hier publizieren wollte, lese ich Ende September 2024 auf Facebook einen Eintrag der Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach. Franziska macht auf das Buch der Spanierin Alana Portero aufmerksam. Ich sagte mir, gut, zuerst auch das noch lesen, dann publizieren. Denn genau darum drehen sich doch meine Fragen. Und Himmel! Was für ein Roman! Wortgewaltig in einer bildhaften Schönheit. Liebe und Leid, Schmerz und alltäglicher Wahnsinn und Erwachen!

In einer eindringlich bildhaften Sprache beschreibt Portero in «Die schlechte Gewohnheit» das Heranwachsen eines Transmädchens im ärmlichen Arbeiterquartier einer Vorstadt von Madrid in den 80ger Jahre. Sie beschreibt die klassische, patriarchale Gewalterfahrung, die viele Frauen erleben. Bezaubernd, liebevoll und zärtlich, roh und zerschmetternd zugleich. Es ist nicht nur Schmerz und Liebe eines heranwachsenden Teenagers, es ist die Verlorenheit eines Kindes, das nirgends dazugehört. Die Abgründe eines Jungen, der sich in der Heimlichkeit eines Badezimmers zum Mädchen schminkt, zur Frau, während er gleichzeitig irgendwie versucht, das zu werden, was er nie werden kann: «ein ganzer Kerl». So lese ich sie.

«Dass man am Ende eine Frau ist, wird einem durch Vorbilder im näheren Umfeld klar, durch den Durst nach Bezugspunkten, durch den Drang, an dem Erbe teilzuhaben, das einige Frauen an andere Frauen weitergeben und das Männern gänzlich fremd bleibt.», heisst es im Roman von Portero.
Ein grossartiger Roman und – übrigens – grossartig aus dem Spanischen übersetzt. Nur: Meine Fragen bleiben. Gerade wenn – wovon ich überzeugt bin – das Geschlecht in hohem Masse ein soziales Konstrukt ist: was treibt Menschen dazu, ihren Körper und sich selbst derart zu verabscheuen? So sehr, dass viele bereit sind, irreversible, grosse medizinische Therapien und chirurgische Eingriffe über sich ergehen zu lassen?

Und bitte! Ich verurteile nicht! Ich frage! Mir geht das alles zu schnell. Ich vermeine die Wirkung wahrzunehmen, diese ungeheure Fragmentierung der Gesellschaften in immer kleinere Einheiten. Diese unglaubliche Konzentration auf Körper und die Verbissenheit, mit der Millionen von Frauen und Männern kaum etwas anderes im Kopf haben, als noch schöner, noch einzigartiger zu werden und sich dabei mehr und mehr gleichsehen – wie Barbiepuppen und ein Ken. Oder wie Wonderwoman und Superman, oder… Himmel, wir kennen alle die Clichés und Stereotypen. Und auf der anderen Seite: die verbleibende, brutale Männerwelt. Die «wahren Männer»! Die «echten Kerle»!, die einen, die mittels ihrer Macht (Geld, Ansehen, Medien) die Welt genauso zu beeinflussen wissen, wie es in ihren Kram passt und oft, ohne dass die Gesellschaft es wahrnimmt und versteht. Wie zum Beispiel mit dem reaktionären Film «Barbie» von Mattel und Greta Gerwig. Sie übrigens eine Feministin.
So ändert sich nichts. Gar nichts.

Einen anderen Weg ist der US-amerikanische Journalist und Autor Jared Yates gegangen. Sein Buch entdecke ich wieder, nachdem ich Portero gelesen habe. Auch er wächst in ärmlichen Verhältnissen einer amerikanischen Kleinstadt auf, mit prügelndem Vater und den späteren genauso prügelnden Stiefvätern.

„The man they wanted me to be – Toxic Masculinity and a Crisis of Our Own Making”. – Jared Yates Sexton, 2019

Selbstverständlich hat jede Frau und jeder Mann, jeder Mensch! das Recht über ihren oder seinen eigenen Körper zu entscheiden. Nur wissen wir sehr gut, dass wir ständig auch beeinflusst sind. Dass nicht nur die Familie uns beeinflusst, sondern eben auch die Gesellschaft um uns herum. Schule, Peergroups (heute wohl eher Communities genannt), Religionen, Literatur und vor allem die Medien. Filme, Internet-Medien, mit ihrer Kakofonie und ihrem unaufhörlichen, wirren Geschrei. Wie soll ein Mensch da noch irgendwie Balance finden?

Da ist es für die eine oder den anderen wohl einfacher, sich irgendeine Schublade zu suchen, um vermeintlich unter ihresgleichen zu sein. Um endlich Ruhe zu finden.Ist das die Lösung? Wirklich? Ich kann es verstehen, aber ändern tut es nichts. Wir verkommen so zu Robotern. Jede und jeder weiss, wie man in seiner Community richtig zu denken und zu reden hat und steht auf Kriegsfuss mit allen anderen. Der Mensch ist halt so? Nein, wir haben mehr drauf. Viel mehr.

Das heisst nicht, dass wir unsere «Feinde» zu lieben haben, wie uns selbst. Das heisst nicht, dass wir alle zu lieben und alles zu verzeihen haben. Es genügt, wenn wir Andersartigkeit zu respektieren lernen. Das ist schon herausfordernd genug. Dann haben wir auch die Kapazität, diejenigen in ihre Schranken zu weisen, die seit Jahrhunderten Profit schlagen aus all diesen Wirrungen.