Reisen bildet? Mitnichten! Aber nicht reisen ist nicht die Lösung.
Zürich, 2015 (überarbeitet 2024)
Ich reise nicht, oder kaum. Und dies seit Jahrzehnten. Grund dafür ist ein Vorfall, der sich 1973 auf der kleinen Balearen-Insel Formentera ereignet hatte. Wir waren viel auf Formentera. Meine Eltern hatten Bekannte, die da ein kleines Häuschen besassen. Damals gab es kaum Elektrisch auf der kleinen Balearen Insel und in diesem abgelegenen, schlichten, langgezogenen Bau in maurischem Stil verlebten wir Jahr für Jahr unsere 5 Sommerferienwochen. Einzig mit Petrollampen. Es gab kein fliessendes Wasser. Wer duschen wollte, musste das Wasser aus dem Reservoir unter dem Haus hochpumpen. Hundertmal pumpen für eine Dusche, zehnmal fürs Klo. Regenwasser, das vom Flachdach ins Reservoir unter dem Haus geführt wurde. Ein geniales System.
Gekocht wurde auf dem Feuerherd in der Küche, aber oft gingen wir den holprigen Pfad runter, der, umsäumt von tiefen Rosmarin-, Thymian- und Wacholdersträuchern, zum Meer runterführte. Zu einem kleinen Restaurant, mehr Chiringuito, das einzig aus einer mit Blech und Stroh abgedeckten Veranda plus Küche bestand.
Es bleiben unvergessliche Ferien, Jahr für Jahr. Es gab nichts als einfach nur Dasein. Schwimmen, Schnorcheln im glasklaren Wasser, bunte, kleine Fischchen beobachtend. Sandburgen bauen, essen und nachts auf den Schaukelstühlen auf der grossen Veranda sitzen und zum Sternenhimmel hochschauen. Da konnte man noch die Milchstrasse sehen, so wie ich sie bis zum heutigen Tag nie mehr gesehen habe. Ein funkelnder Diamantschweif über unseren Köpfen. Andere Touristen? Es gab sie hier kaum. Im kleinen Restaurant war unsere sechsköpfige Familie meist unter sich.
Und klar, es tönt jetzt grauslich romantisch. Denn logisch gab es auch Krach und Streit und alles, was dazu gehört, was Familien ausmacht. Unter dem Nenner aber: Zurück bleibt der Duft. Und die Farbe des Himmels, des Meeres. Zurück bleibt ein gutes Gefühl von Freiheit.
Jahre später, mit 19 Jahren, reiste ich mit einer Freundin wieder nach Formentera. Ich hatte nichts mit den Bekannten meiner Eltern am Hut, also versuchte ich schon gar nicht erst, das Häuschen mieten zu wollen. Wir hatten nur ein Zelt dabei. Ich wollte ihr die Insel zeigen und alles so einfach halten, wie ich es kannte und mochte. Ich suchte eine Stelle in der Nähe des kleinen Restaurants, das immer noch so dastand, wie ich es kannte. Mitten in den hölzernen Rosmarin- und Thymian-Sträuchern. Hier schien sich kaum etwas verändert zu haben. Wir stellten das Zelt auf, ich kroch rein und wollte eine Handvoll Schlaf und meine Freundin machte sich auf den Weg, die Gegend zu erkunden. Ich sollte sie diese drei Wochen kaum mehr sehen. Bei ihren Erkundungen an diesem allerersten Tag traf sie auf ihren Fritz, der irgendwo weiter weg mit Freunden in einer Pension logierte und der später ihr Mann werden sollte, auf jeden Fall der Vater ihres Sohnes.
Ich aber schlief an diesem ersten Nachmittag tief und selig eine Siesta. Als ich aufwachte, den Reissverschluss des Zeltes öffnete und rauslugte, staunte ich nicht schlecht.
«Tu dors avec nous?» – Da kauerten drei Jungs vor meinem Zelt. 14 Jahre alt, 15vielleicht? Schläfst du mit uns, fragte der, der in der Mitte kniete in gebrochenem Französisch, aber deutlich verständlich. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Aber dann erkannte ich ihn. Bartolomeo!
Bartolomeo, der Sohn des Besitzers des Restaurants. Ein hübscher Junge, mit einem dunkeln Wuschelkopf, grossem Mund und blendend weissen Zähnen. Immer noch. Wegen seiner grossen Schaufeln nannte ihn meine Mutter Jahre zuvor manchmal Mickymaus. Drei, vier Jahre jünger wie ich war er. Er kam damals als Kind an unseren Tisch. Wechselte ein paar Worte. Ich kann mich nicht erinnern, ob er und meine beiden jüngeren Schwestern miteinander gespielt hatten. Am Strand jedenfalls war er nie, er erschien nur auf der Veranda. Wir lebten in anderen Welten. Aber an seinen grossen Schaufeln erkannte ich ihn augenblicklich wieder. «Bartolomeo?!»
Was soll das, fragte ich ihn. Was um alles in der Welt soll das? Wie er, wie er und seine Freunde auf diese Idee kämen.
«Das ist doch, was ihr Touristinnen von uns wollt?». Bartolomeo erkannte mich nicht wieder. Schaute mich unverwandt an. Nicht fordernd. Nicht unterwürfig. Er kniete nur da, zwischen seinen Freunden.
Er erzählte mir dann, was sich englische, deutsche oder französische Touristinnen von den jungen Männern auf Formentera wünschten. Junge Männer? Das waren noch Kinder! Ich war vor den Kopf gestossen. Ich war wütend. Diese Frauen bezahlten diese Buben. Benutzten sie. Es war widerlich. Ich sah Bartolomeo und seine Freunde nicht mehr nach diesem Abend. Auch meine Freundin nicht. Sie war bis zur Abreise bei ihrem Fritz (oder hiess er Franz?) in der Pension. Es sei da bequemer, meinte sie. Und es habe mindestens eine Dusche.
Auch am dritten Tag sass ich also alleine am Strand. Vor mir tümmelten zwei junge Männer in den Wellen. Zwei schlaksige Typen mit langen Haaren, fast bis zum Hintern. Der eine versuchte dem anderen das Tauchen mit einer Taucherbrille beizubringen. Da gesellte sich eine kleine, schwarze Hündin zu mir. Setzte sich neben mich und blieb bis zur Nacht vor meiner Abreise bei mir, begleitete mich auf Schritt und Tritt. Dann verschwand sie, so wie sie aufgetaucht war. Princesa. So rief ich sie.
Wir sassen da, zu zweit und schauten aufs Meer. Princesa und ich. Sie hat mit dem weiteren Verlauf dieser Geschichte nichts zu tun. Aber ich könnte diese Geschichte nicht aufschreiben, ohne Princesa zu erwähnen. – Die beiden jungen Männer da draussen tauchten auf und ab, rauf und runter, einatmen, tauchen… und dann, der eine, der das Tauchen lernen sollte, tauchte auf, seine Taucherbrille voller Wasser. Ich musste laut lachen. Sie auch. Wir alle drei lachten. Und so lernte ich sie kennen. Mark und Marc. Ein Amerikaner und ein Engländer. Hippies. Auf ihren Vespas erkundeten wir Formentera. Princesa hatte ich zwischen mir und Marc oder zwischen mir und Mark. Einmal zeigten sie mir die Discos am Morgen danach. Die sahen mehr aus wie riesige, leere Pissoirs., als wie Veranstalungsräume. Flaschen. Scherben. Bierlachen, in denen Spritzen schwammen. Kotze. In einem Kakteefeld Scheisse hinter den Pflanzen. Mehr erzähle ich nicht.
Es war dieser Moment, als ich mir schwor, nie mehr zu reisen. Sie kotzten mich an, all diese Menschen, die hierherkamen um «frei» zu leben. Um zu tun, was sie sich zuhause nicht getrauten. Nein, das war nicht die Freiheit, die ich meinte. Sie kamen hierher, dröhnten sich zu, knallten sich die Birne voll, Männer wie Frauen und konsumierten die Insel. Fühlten sich erhaben, über die Insel-Bevölkerung, von denen viele ein bescheidenes, eher beschwerliches Leben führte. Da kommen wir TouristInnen und konsumieren die Insel, fressen sie, mitsamt ihrer Bevölkerung. Was auf Ibiza keinen Platz mehr hatte, schwappte über nach Formentera. Letztlich war ich doch auch nur Teil dieser Maschinerie?
Ich war fünf Jahre später doch noch mal da. Mit meiner Mutter, meinem Sohn und meiner Schwester. Diesmal wieder im Häuschen von früher. Es war immer noch «mein» Formentera. Der schwere Duft von Rosmarin und Thymian. Die bizarren Felsen. Die leeren, steinigen Strände. Das klare Wasser. Aber das ist eine andere Geschichte. Was sich aber in mir noch mehr verdichtete, war: Ich möchte nicht mehr reisen. Das hielt sich Jahre. Auch wenn mir das Meer fehlte. Das Licht. Der Geruch. Ich reiste nicht mehr.
Bis meine Eltern in den Achtzigerjahren nach Spanien übersiedelten. Jetzt «musste» ich nach Spanien. Jetzt hatte ich eine wunderbare Ausrede: Ich musste meine Eltern besuchen. Und ich war so verdammt froh um diese «Ausrede». Erst jetzt realisierte ich, wie sehr mir dieses Land gefehlt hatte. Die Menschen, die Atmosphäre, die Weite, das Blau. Die Hitze. Die Luft. Der Duft! Ich realisierte, dass einfach nicht zu reisen, nicht die Lösung sein konnte.
Aber schnell ein Wochenende nach London zum Shoppen, ein Weekend nach New York, weil an der MoMa eine so wichtige, eine so geile Ausstellung am Laufen ist. Schnell an die Biennale in Venedig, weil das ist Kultur! Oder umsverrecken auf den Kilimandscharo müssen, weil das da irgendwannmal aufgeschrieben worden ist, auf der eigenen, vermaledeiten bucket list. Oder ein Wellness-Wochenende in Istanbul? Ne! Das lasse ich nicht gelten. Wir können so nicht weiterfahren. Schon lange nicht mehr. Hier müssen wir aufhören, uns etwas vorzumachen. Wir alle!
Was ich lernte: Reisen müssen sein. Reisen, um die Familie zu besuchen. Reisen, um zu arbeiten. Reisen, um zu lernen, um zu studieren, um zu forschen. Städtereisen. Reisen, um das eigene Land kennenzulernen. Und verdammt, ja: Menschen, Kinder, Frauen und Männer brauchen diese Auszeiten. Zwischendurch. Aber unser gefrässige Tourismus, auch der Individual-Tourismus, auch Hundertausende von Business-Reisen, das alles bringt keinem Land, keiner Stadt etwas.
Wer sich vormacht: Ja aber der Tourismus! Der schafft Stellen. Schafft Arbeit für die Einheimischen. Bauunternehmen. Hotels. Restaurants. Bars. Bringt Devisen. Ja, sicher. Aber manch ein Bartolomeo und manch eine Maria von Feriendestinationen wären froh, ihr Staat würde mehr in andere Bereiche und andere Branchen investieren. Gäbe ihnen die Möglichkeit, eine gute Schule zu besuchen. Sicher, verbieten bringt nichts. Es derart zu verteuern, dass nur noch Wenige reisen können, geht auch nicht.
Denn allen voran müssen Misses und Mister Superreich, die in ihren Privatjets schnell zum Wochenende in irgendeines ihrer Häuser rundum die Welt jetten, auf die Bremse treten.
Es macht uns auch nicht besser, wenn wir uns über den Pöbel am Ballermann oder über die Putzfrauen auf Mallorca lustig machen. Es ist nicht schlecht, sich selbst bei der selbstgerechten Ausrede zu ertappen. Reisen bildet? Mitnichten! Reisen ist mitunter nur eines: zerstörerisch.
Also was nun? Was tun? Auf jeden Fall nicht einfach die Schultern zucken. Auch nicht jede und jeden verteufeln, die doch reist. Aber darüber diskutieren! Sich damit auseinandersetzen. Mich beschäftigt das Thema bereits mehr als 50 Jahre! Vor 40 Jahren dann schrieb ich ein Essay unter dem Titel: «Wir können so nicht weiterfahren! Wir müssen weitergehen!» Auch da ging es nicht nur darum, dass Autofahren zu verteufeln, sondern vor allem darum, wie bewusstlos wir mit unserem eigenen Verhalten umgehen. Es ging mir darum aufzuzeigen, wie irrational Menschen, wir alle, agieren. Wie sehr wir uns etwas vormachen. Es interessierte keine Redaktion.
Wir können so nicht weiterfahren, wir müssen weitergehen, GEHEN und DENKEN. Dann wären wir einen kleinen Schritt weiter.
Im Frühjahr 2019 stand plötzlich alles still. Keine Flugzeuge im Himmel. Und wie wurde unter umweltbewussten Menschen gejubelt. Sie sahen diese Zäsur von Corona als Wende. Welch ein Irrtum. Es wird mehr geflogen, als je zuvor. Seit einiger Zeit nun ist das Klima medial schier in der Dauerschleife. Keine Tagesschau geht über die Bühne, ohne den vom Menschen verursachtem Klimawandel nicht zu erwähnen. Täglich wird uns die Apokalypse vorgerechnet. Den LeserInnen, HörerInnen und ZuschauerInnen wird unter die Nase gerieben, was uns alles erwartet, wenn wir nicht und zwar sofort unser Leben ändern.
Mit Verlaub: Millonnen von Menschen sind schon lange wach. Lange vor der so genannten Generation Z, oder den KlimakleberInnen. Dass wir so nicht weiterfahren können, wissen viele bereits seit über 80 Jahren. Spätestens seit Erscheinen des Berichts «Die Grenzen des Wachstum» vor über 50 Jahren wissen wir es schwarz auf weiss: Das individuelle lokale Handeln aller Menschen hat «globale Auswirkungen, die wie über den Zeithorizont und Handlungsraum der Einzelnen hinausgehen».
Millionen von Menschen leben seit Jahrzehnten ein bewussteres Leben. Es sind in vielen Ländern neue Parteien entstanden. Die Grünen mischen jetzt seit über 30 Jahren in der Poiitik mit.
Und was geschieht? Schier nichts. Es wird mehr gefahren, mehr geflogen, mehr gebaut als je zuvor. Ich weiss nicht, wie oft ich in den letzten Monaten von Wissenschafterinnen oder Journalistinnen den erstaunten Satz gehört habe: «Warum um Himmels Willen ist der Mensch nicht fähig, endlich aufzuwachen?» Warum ist der Mensch nicht lernfähig?
Die Frage ist: Warum sind WissenschafterInnen nicht lernfähig? KlimawissenschaftlerInnen starren auf ihre Zahlen, rechnen uns die Kipppunkte vor, machen ständig den Normalsterblichen ein schlechtes Gewissen, während die Welt in den letzten Jahrzehnten von nur einer Ökonomie vorwärtgetrieben wird: Wirtschaftswachstum. Mehr Marktwirtschaft. Mehr Markt. Mehr von allem. Kauft! Kauft! Kauft Leute! Der Wirtschaft möglichst freie Bahn lassen. Wer dies kritisiert, wird sofort als linker Nichtsnutz abgestraft.
Wenn KlimawissenschaftlerInnen nicht lernen, dass sie vor allem die PolitikerInnen in die Verantwortung nehmen müssen, dass sie sich die CEO der Konzerne zur Brust nehmen müssen, dass sie vor allem die Wirtschaftswissenschafter aufklären müssen, dann ändert sich weiterhin nichts. Nichts!
Wir können so nicht weiterfahren, wir müssen weitergehen, GEHEN und DENKEN. Dann wären wir einen kleinen Schritt weiter.