«Gekaufte Wissenschaftler» – Protokolle einer veritablen Verschwörung

«Follow the Science?» I – Spain, Februar 2021

Weil wir zu blöd seien und zu einfach gestrickt, seien wir unfähig, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Seien wir unfähig, der Wissenschaft zu folgen. Und darum würden viele Menschen wissenschaftliche Expertise ablehnen. Dieser Befund wird uns fast im Wochentakt um die Ohren gehauen. Das Scheinwerferlicht ist auf die so genannten Verschwörungstheoretiker gerichtet und im Dunkeln bleibt, warum nach wie vor so viele Menschen Zweifel hegen, zu Recht Zweifel hegen.

Im Buch «Gekaufte Forschung» zeigt Christian Kreiss, deutsche Professor für Wirtschaftspolitik, minutiös die Problematik von industrienaher Forschung auf, anhand vieler Beispiele von skrupellosem Missbrauch von Wissenschaft durch Unternehmen der näheren Vergangenheit. Kreiss kommt zum Schluss: «Durch den Missbrauch der Wissenschaft im Dienste von Industriegeld, wie er heute an der Tagesordnung ist, leiden Ansehen und Autorität der Wissenschaft, und der Glaube an wissenschaftliche Wahrheit überhaupt verschwindet allmählich.» Und er warnt: In der Bevölkerung wird nicht zu Unrecht die Wissenschaft zunehmend als tendenziös oder gar korrumpiert und daher nicht mehr als voll vertrauenswürdig wahrgenommen». Das ist 2015. Eine grössere Auseinandersetzung mit dem Thema hat es nicht gegeben, sie steht nach wie vor aus.

Wissenschaftlerinnen sind keine Götter, sie sind nicht unfehlbar, können käuflich sein, wie alle anderen Menschen. Wir wissen dies aus diesen Skandalen. – Mit der Losung «Follow the Science» hat sich die Welt der Wissenschaft darum selbst ein toxisches Ei ins eigene Nest gesetzt, oder setzen lassen. Jeder einzelne Mensch, der irgendwann im Leben Opfer einer dieser Skandale geworden ist, wird nur ein müdes Lächeln für diese Forderung haben und verständlicherweise einem solchen Ruf mehr als skeptisch gegenüberstehen.

Dabei geht es nicht darum, auch «die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen» ernst zu nehmen, es geht nicht darum, Menschen zu bemuttern und halt manchmal zu ihrem eigenen «Glück» zu zwingen. Es geht einzig darum die Menschen zu informieren und aufzuklären. Wenn Wissenschaftlerinnen es nicht schaffen, sich öffentlich einzugestehen, dass sie selber auch nur Menschen sind, dass sie selber auch einer Confirmation Bias unterliegen könnten, einer Wahrnehmungsverzerrung, dass sie selber auch voreingenommen sein können, ideologiegesteuert oder korrumpiert, sei es durch den eigenen Ehrgeiz, oder durch Konzerninteressen, dann müssen sie sich nicht wundern, wenn Menschen skeptisch bleiben. Und wenn man, weil das so viel einfacher ist, die Menschen, die skeptisch sind ohne Wimpernzucken in die gleiche Schublade steckt, wie wirkliche Verschwörungsidioten, muss man sich nicht wundern, wenn einem die ganze Kommunikation um die Ohren fliegt und immer mehr Menschen sich angewidert abwenden.

Woher die Losung kam, konnte ich nicht herausfinden, vielleicht von der Weltgesundheitsorganisation WHO, vielleicht war es ein Schlagwort in einer Zeitung oder irgendeine Kommunikationsagentur, unreflektiert tausendfach kopiert von Journalistinnen und Regierungen. Einige wenige Wissenschaftlerinnen haben versucht, es zu korrigieren. Die grosse Mehrheit der Wissenschaftler aber sonnt sich in der neu gefundenen öffentlichen Aufmerksamkeit – oder schweigt.

Wie gesagt: Wissenschaftlerinnen sind weder bessere, noch schlechtere Menschen. Sie sind genauso verführbar und käuflich, wie jeder andere Mensch. Im Gegenteil ist jeder und jede, die in diesem Haifischbecken an wissenschaftlicher Konkurrenz und in dem Gerangel um Anerkennung und Forschungsgelder steckt, unter Umständen sehr viel anfälliger auf allfällige Interessen. Da braucht es eine gute Portion wissenschaftlicher Integrität und Reflektiertheit, diese habe viele, einige andere nicht. Das bedeutet, dass gerade Journalistinnen und WissenschaftsjournalistInnen hier doppelte Sorgfalt und Zeit erbringen müssen, bevor sie vermeintlich sicheres Wissen publizieren. Denn Grosskonzernen gehen mit ihren Lobbyisten kommunikativ nicht nur sehr geschickt vor, sondern arbeiten mit harten Bandagen. Sie haben und nutzen das Geld und die Macht, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dazu benutzen sie auch die Wissenschaft – und natürlich die Medien, als Vervielfältiger. Das ist keine Verschwörungstheorie, dass ist Business.

Auch der Film «Die grosse Zuckerlüge» zeigt genau das sehr gut auf. Es geht in dieser Dokumentation selbstredend um die Schädlichkeit eines zu grossen Zuckerkonsums. Es geht aber auch darum, wie es dem mächtigen Zuckerverband gelang, in den 1970er Jahren Zucker als wichtiges und gesundes Nahrungsmittel zu etablieren, mit gravierenden Auswirkungen bis heute.

Wer verstehen will, warum viele Menschen sich so genannt der Wissenschaft verweigern, muss sich diese Dokumentation ansehen, weil er die Mechanismen und Strategien aufzeigt, die mächtige Konzerne, Verbände und Lobbyisten anwenden. Und auch die Rolle der Medien und von Journalisten in diesem unguten Spiel, wenn sie unreflektiert von einer Lobby bezahlten Wissenschaft den gleichen Raum bieten, wie einzelnen WissenschaftlerInnen oder Universitäten. – Hier ist die wahre so genannte False Balance. Wir hatten sie jetzt über Jahrzehnte, wo «Klimaleugner» jede These der menschengemachten Klimakrise abwürgen konnten, bis sie sich nicht mehr leugnen liess und bis die Kinder der FFF die Medien geradezu zwangen, das Klima wieder auf die Agenda zu setzen. In ihrem Windschatten bekommen endlich auch die WissenschaftlerInnen die mediale Öffentlichkeit, die ihnen zusteht, die nötig ist. Allerdings ist das neu erwachte Interesse am Klima auch mit sehr viel Vorsicht zu geniessen, dünkt mich. Es wird zurzeit medial alles grad gar grün gewaschen. «Die grosse Zuckerlüge» ist in meinen Augen darum ein Muss für alle JournalistInnen, aber auch für alle anderen. Es ist ein Augenöffner.

Hier kann man direkt zum Film gehen. Und es lohnt sich, ihn Wort für Wort bis zum bitterzuckersüssen Ende zu schauen. Zumal diese Lügen nach wie vor dazu führen, dass Millionen von Menschen sich falsch ernähren.

Für Eilige habe ich nur zwei von vielen Schlüsselmomenten der Doku hier transkribiert oder zusammengefasst:

In den späten 60er und frühen 70er Jahren begann eine Diskussion über den Einfluss von Zucker auf unsere Gesundheit und darüber, ob Zucker Mitverantwortung für Krankheiten trage. – Auch die Zahnärztin Christin Kearns, damals Leiterin des städtischen Gesundheitszentrums in Denver, Colorado, ging diesen Fragen nach und stiess bei ihren Recherchen schliesslich auf geheime Sitzungsprotokolle der US-Kommission für öffentliche Kommunikation: Ein vertrauliches Dokument des Zuckerverbands. Es ging um die PR-Strategie, die der Verband in den 1970 Jahren umgesetzt hatte. Damals war die FDA, die US-Gesundheitsbehörde dabei, die Auswirkungen von Zucker zu überprüfen und dem Zuckerverband ging es darum, alles daran zu setzen, die Sicherheitszulassung der FDA zu bekommen.

Zum Plan des Zuckerverbands habe es gehört, dass es niemals zu einem Konsens komme, ob jetzt Zucker gesundheitsschädigend sei, wie einzelne WissenschaftlerInnen warnten, oder völlig harmlos oder noch mehr: DAS gesunde Nahrungsmittel, wie es John Tatem jr. sah, der Präsident des mächtigen Zuckerverbandes. Das sagt Gary Taubes, ein Physiker, Journalist und Autor in der Doku. In seinem Buch «The case of sugar» zitiert er John Tatem, der sich 1976 an zwei Vorträgen vor Ernährungsexperten und vor den versammelten Direktoren des Zuckerverbands über die Wichtigkeit von Zucker für die Gesundheit und seine wichtige Rolle «im Kampf gegen den Hunger in Entwicklungsländern» ausliess. Zucker werde angegriffen, referierte John Tantem. «Die Feinde» des Zuckers würden Zucker für allesmögliche verantwortlich machen. «Jede körperliche Krankheit, von Herzkrankheiten bis hin zu schwitzenden Handflächen», klagte Tantem und schreckte nicht einmal davor zurück, die WissenschaftlerInnen, die sich gegen einen grossen Zuckerkonsum aussprachen, als «Quacksalber» zu bezeichnen, die sich der «Big Lie-Technik» von Goebbels bedienten, um die Menschheit in die Irre zu führen. (*1)

Der Zuckerverband, The Sugar Associaton Inc., begann mit «Forschungsförderung» «und sah sich nach wissenschaftlichen Gutachtern um, die bereit waren, die Branchenposition zu vertreten. Das war von Anfang an eine international konzertierte Aktion», erklärt Cristin Kearns weiter in der Doku (bei 21’31“): «Es geht dabei nie um ein eindeutiges Pro oder Contra «Zucker macht krank», ihnen ging es vielmehr darum, die Sache in der Schwebe zu halten, damit politische Entscheidungsträger nicht definitiv sagen können, Zucker macht krank. Sie müssen dafür sorgen, dass es schwammig bleibt.»

Es muss schwammig bleiben. Es muss unbeweisbar bleiben. Die Zuckerindustrie stattete zum Beispiel den US-amerikanischen Wissenschafter Ancel Keys mit «beträchtlichen Summen» aus. Jedes Mal, wenn der britische Ernährungswissenschaftler John Yudkin etwas zur Schädlichkeit von Zucker publizierte, soll Ancel Keys alles wieder relativiert haben. – Um hier nur ein Beispiel von einem korrumpierten Wissenschaftler zu nennen.

Wie gesagt, es lohnt sich die Doku Wort für Wort bis zum bitterzuckersüssen Ende anzuschauen, wenn man vorher nicht wegen Atemnot aufhören muss. Die Parallelen zur Tabak-Lüge sind alle da und auch die Vorgehensweise der Branchen: Wissenschaftler, Politikerinnen, und Journalisten wurden durch Aufträge und Einladungen zu Konferenzen und Sponsoring von Anlässen dafür belohnt, dass sie sich für die Ziele der Tabakindustrie einspannen liessen. Bei der Tabakindustrie änderte sich dies erst etwas, seit Stan Glantz von der University of California, der vehemente Kämpfer gegen die Branche, 1994 in den Besitz von 10.000 internen Dokumenten von Tabakkonzernen gelangte und US-amerikanische Staaten erste Klagen erhoben. «Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied », so hält Stan Glantz fest, heute Direktor des Zentrums für Tabakkontrolle: «Tabak brauchen wir nicht!» Es sei ungleich schwieriger, gegen die Nahrungsmittelindustrie vorzugehen, weil wir Nahrungsmittel bräuchten. Ganz zum Schluss sagt Cristin Kearns: «Solange wir die Branchenpraktiken nicht durch und durch verstanden haben, wird diese Debatte endlos weitergehen».

«Es geht dabei nie um ein eindeutiges Pro oder Contra «Zucker macht krank», ihnen ging es vielmehr darum, die Sache in der Schwebe zu halten, damit politische Entscheidungsträger nicht definitiv sagen können, Zucker macht krank. Sie müssen dafür sorgen, dass es schwammig bleibt.»

Christin Kearns – 2013 in Die grosse Zuckerlüge

Und ich sage zum Schluss: Solange Journalistinnen diese Strategien und Praktiken nicht zu verstehen und durchschauen lernen, die Praktiken von der Automobilbranche, über Pharmakonzerne oder Energiegesellschaften und Desinformations-Organisationen, wie zum Beispiel die US-amerikanische «Denkfabrik» The Heartland Institute, solange wir das nicht verstehen, wird es noch viele weitere Jahrzehnte dauern, bis sich irgendetwas ändert.

“Follow the Science”? Nein Danke! Wir müssen Wissenschaft verstehen. Wir brauchen mehr Wissenschaft und wir brauchen einen Wissenschaftsdiskurs und einen Wissenschaftsjournalismus, die ihren Namen gerecht werden. Kein Verstecken hinter einer «wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung», was zum Himmel soll das sein? Und allem voran keinen Ausschluss mehr von WissenschaftlerInnen von der öffentlichen Debatte. Dann können wir sicher sein, dass auch so genannt «Wissenschaftsskeptische» wieder zuhören. Sie sind nicht zu dumm, Komplexität zu verstehen. Aber viele Menschen haben es satt, regelrecht verarscht zu werden, auch weil viele die Komplexität von Welt sehr viel besser zu verstehen scheinen, als manch ein Wissenschafter oder eine Journalistin. Mit einfachen AHA-Rezepten ist dem jedenfalls nicht beizukommen.

Es braucht endlich auch eine selbstkritische Distanz der WissenschaftlerInnen gegenüber sich selber, gegenüber ihrer eigenen Gilde. Die Skandale und Versagen der letzten Jahre sind da, wirken sich auf Millionen von Menschenleben aus. Das lässt sich nicht schönreden. Das sind Wunden und die lassen sich nur mit einer wirklich evidenzbasierten, unabhängigen und aufgeklärten Wissenschaft und mit sehr viel reflektierender und selbstreflektierender Kommunikation heilen. – Schönreden war gestern.

«Die grosse Zuckerlüge»

Gekaufte Wissenschaftler der Zuckerindustrie. Dokumentarfilm von Michèle Hozer – 2013.
https://www.youtube.com/watch?v=VTCvmUfmXlo
(Die Rolle der Wissenschaftler und Medien in der Zuckerlüge beginnt ab 15’30”, es lohnt sich allerdings, die ganze Doku anzuschauen).

Mehr zum Thema Zucker und Missinformation (nur 2 Beispiele von Dutzenden)

Coca-Cola Funds Scientists Who Shift Blame for Obesity Away From Bad Diets

«Coca-Cola, the world’s largest producer of sugary beverages, is backing a new “science-based” solution to the obesity crisis: To maintain a healthy weight, get more exercise and worry less about cutting calories.

The beverage giant has teamed up with influential scientists who are advancing this message in medical journals, at conferences and through social media. To help the scientists get the word out, Coke has provided financial and logistical support to a new nonprofit organization called the Global Energy Balance Network, which promotes the argument that weight-conscious Americans are overly fixated on how much they eat and drink while not paying enough attention to exercise.» The New York Times, 2015

Dick, dicker, fettes Geld | Doku Reupload | ARTE – Dokumentarfilm von Thierry de Lestrade und Sylvie Gilman (F 2020, 90 Min)

«Mediziner sprechen von einer Zeitbombe: Bis 2030 ist die Hälfte der Weltbevölkerung übergewichtig oder fettleibig. Adipositas sorgt für einen rasanten Anstieg von Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs – und wird zum schwersten Gesundheitsproblem weltweit. Warum ist es noch keinem Land gelungen, diese Epidemie zu stoppen? Laut Lebensmittelindustrie und staatlichen Behörden ist sie auf einen Mangel an individueller Selbstdisziplin zurückzuführen. Stimmt das? Oder ist sie nicht vielmehr das Ergebnis eines kollektiven Versagens, das Symptom einer liberalen Gesellschaft, die Fett verabscheut und fette Menschen produziert?

https://www.youtube.com/watch?v=h4xCPQ1pjxA

*1 Taubes, Gary. The Case Against Sugar (S.144). Granta Publications.