Einem Wissenschaftler einfach glauben? Oder doch besser Bäume umarmen?

Angst frisst Verstand

Spain, Dezember 2020 und update Dezember 2021

Zurzeit ist es gesünder und rationaler, Bäume zu umarmen. Denn was sich uns in praktisch allen Medien zeitgleich seit Monaten als Wissenschaftsvermittlung darbietet, diese sich immer wieder widersprechende Kakophonie, die aber nichtsdestotrotz nur einem einzigen Narrativ zu folgen scheint, ist einmalig in der Geschichte aller Demokratien in Friedenszeiten. – «Follow the science», es war wohl die dümmste Losung, die man sich hatte ausdenken können. Follow the science? Nein, Wissenschaft verstehen! Wissenschaftlerinnen sollen miteinander diskutieren, streiten, debattieren, ihre Thesen vergleichen, darlegen, publizieren, auch für die Öffentlichkeit, so verständlich, wie es ihnen möglich ist. Und allem voran wären es die Wissenschaftsjournalistinnen, die uns Normalsterblichen übersetzen, was nicht verständlich ist.

Genau das wird getan, werdet ihr mir vorwerfen. Nein, genau das wird nicht getan. Zum ersten Mal in der Geschichte von Demokratien in Friedenszeiten werden WissenschaftleInnen stumm geschaltet. Wird Angst und Panik verbreitet, wird jede und jeder, der eine andere These vertritt zur «Verschwörungstheoretikerin» gestempelt – und zensuriert! Und alle schauen diesem entsetzlichen Vorgang zu, ohne mit der Wimper zu zucken.

Angst frisst Verstand.

Im September 2020 habe ich mir einen der Podcasts des Virologen Christian Drosten angehört. Es ging um «Das Afrika Rätsel», darum, warum die Menschen in vielen afrikanischen Staaten einfach nicht so millonenfach sterben wollten, wie prognostiziert worden war. – Da fällt irgendwann dieser Satz, der mich – heute noch – erschüttert. Christian Drosten sagt wortwörtlich: «Es muss schon so eine gespannte Aufmerksamkeit in der allgemeinen Bevölkerung sein und nicht die gegenteilige Botschaft.» Ich hoffte mich verhört zu haben. Lese den Text nach (*1). Aber nein, Drosten hatte es so formuliert. Diese «gespannte Aufmerksamkeit». Angst! Ich nahm an, dass jetzt endlich ein Aufschrei von Seiten anderer Wissenschaftlerinnen käme, auch über die Mainstream-Medien und allem voran über die Öffentlich-Rechtlichen Sender, die Psychiaterinnen zitieren liessen und Psychologen, Soziologinnen, Kinderärzten, Lehrerinnen. Aber der Aufschrei kam nicht. – Es brauche eine gespannte Aufmerksamkeit in der Bevölkerung?

Es ist mithin das Schlimmste, was man Gesellschaften antun kann. Sie in Angst, sie in ständige Alarmbereitschaft und Unruhe zu versetzen. Das zermürbt die Menschen. Angst ist Gift für Körper und Geist. Gift für das Immunsystem und sie frisst den Verstand (*2). Angst lähmt. Angst tötet. Langsam, aber kontinuierlich. Bestialisch. Zersetzend. Dieser glibberige, schwabbelige, glitschige Boden, auf dem kein Mensch mehr richtigen Halt findet.

Wer Menschen wissentlich in Angst versetzt, handelt grobfahrlässig. – Aber ich hörte keinen Aufschrei in den Medien. Im Gegenteil, Prof. Drosten schien immer mehr zu einer Art Galionsfigur hochstilisiert zu werden, mehr noch: zu einem Heiligen. Um es vorweg zu nehmen, Professor Drosten ist als Virologe wohl sicher ein guter Fachmann. Ich kann es nicht beurteilen. Aber er ist ein Virologe. Nur ein Virologe. Ein Techniker. Ein Laborant. Und ich kann nur noch einmal wiederholen: Der Mensch ist keine Petrischale und die Welt ist kein Hochsicherheitslabor. Ihr könnt Lockdowns an Lockdowns hängen, wir werden so niemals aus diesem Wahnsinn herauskommen. Es ist keine Krise, es ist Wahnsinn. Wir sagen: «Aber die Zahlen steigen! Die Intensivstationen füllen sich! Aber Long Covid!» – und blenden alles andere aus. Das Leben!

Wir brauchen die Expertise der anderen Wissenschaftlerinnen, nicht nur von denen, die immerfort dieselben Daten herunterbeten, sondern auch von anderen Wissenschaftlerinnen, Gesundheitsexpertinnen, die zu anderen Ergebnissen kommen. Wir brauchen die Gegenthesen. DAS wäre eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Prof. Drosten spricht gerne von False Balance. Er, der sich stundenlang und praktisch seit Jahr und Tag ungeschnitten zum Thema äussern darf. False Balance? Ja, in der Tat!

Jeder einzelne Mensch, der an Corona stirbt, ist eine Tragödie. Da gibt es nichts zu rütteln. Aber wir müssen uns auch fragen, wo all die Tausenden von Menschen sind, die in den letzten Jahren an Spitalkeimen zu früh verstorben sind? Hat sich das Problem mit den tödlichen Spitalkeimen in Luft aufgelöst? Wo sind alle die, die wegen Antibiotikaresistenzen zu früh verstorben sind? Auch dieses Thema ist wie vom Erdboden verschluckt? Und allen voran: die Tausenden von Menschen – vor allem ältere Menschen, oder Menschen mit Vorerkrankungen, die an Lungenerkrankungen verstarben, all die letzten Jahre? Alle die Kinder mit Asthma. Der Feinstaub, der ganze Dreck in der Luft? Vom Winde verweht? Pestizide im Wasser und im Boden, in unseren Lebensmitteln und Tieren? Dies nur vier Themen, die da irgendwo verlorengegangen gegangen sind in der Covid-Panik. Von der Krise, die wir seit mehr als einem Jahrzehnt in den Gesundheitssystemen haben, möchte ich schon gar nicht anfangen. – Diese Fragen werden als Whathboutism weggefegt, weil «Nein! der Mensch stirbt an dem Virus und Punkt».

Aber es sind Fragen, die keine Antworten erhalten oder die wir nicht einmal stellen. Dafür noch mehr Plastik, noch mehr Chemikalien, tonnenweise. Und wer jetzt sagt: aber Long Covid? Der solle sich bitte mit den Forscherinnen unterhalten, die seit Jahrzehnten um mehr Geld für die ME/CFS Forschung betteln (*3). – Ich kann mich an einen Forscher auf Twitter erinnern, irgendwann Ende 2020, der schrieb, dass das einzig Gute an Long Covid sein könnte, dass es jetzt endlich vielleicht etwas mehr Gewicht und Öffentlichkeit für ME/CFS bedeuten könnte und für die weltweit über 17 Millionen Patientinnen auf der Welt, die an diesen Krankheiten und ihren Folgeerscheinungen vorangegangener Infekte leiden und: seit Jahr und Tag nicht ernst genommen werden, um Anerkennung ihrer Krankheit kämpfen müssen und oft einfach nur als Hypochonder angesehen werden. Psychisch, das Ganze, nur psychisch!

Nein, mit Verlaub: Wir haben einen geistigen Lockdown der halben intellektuellen Elite auf der Welt – und die andere Hälfte schweigt. Wohlweislich, denn die Wenigsten haben die Möglichkeit oder die Courage oder einfach auch nur Bock darauf, als Verschwörungstheoretikerin gebrandmarkt zu werden. Denn dies wird getan. Und noch mehr – und das ist wie gesagt – einmalig in der Geschichte unserer Demokratien:

WissenschaftlerInnen, die es wagen, andere Gesichtspunkte, andere Erkenntnisse, andere Thesen einzubringen, werden zensuriert, die Texte anerkannter, renommierter Wissenschaftlerinnen werden nicht publiziert. Interviews und Artikel in den Sozialen Medien werden lächerlich gemacht und gelöscht. Hunderte Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen, Gesundheitsexpertinnen, Journalistinnen und Juristen weltweit schreiben sich täglich die Finger wund, werden nicht publiziert, müssen ständig damit rechnen, dass ihre Accounts gelöscht werden, dass sie gesperrt werden. Müssen ausweichen auf manchmal suspekte Kanäle oder eigene eröffnen. Rechte und rechts-extreme Kanäle nehmen diese versprengten AutorInnen mit offenen Armen auf. Dass kritische AutorInnen in der Schweiz zum Beispiel plötzlich ausgerechnet in Publikationen wie Die Weltwoche von Roger Köppel oder im Nebelspalter von Markus Somm erscheinen, hat in meinen Augen darum wenig mit kritischem Geist dieser beiden Herren zu tun, als vielmehr damit, dass Köppel und Somm alles recht ist, was als Opposition zu linker Haltung angesehen wird. Auf jeden Fall erreichen die Gedanken und Thesen kritischer AutorInnen nicht mehr eine breitere Öffentlichkeit und können jetzt erst recht in die rechte Ecke abgetan werden. Journalisten, die sich kritisch äussern, wurden kurzerhand entlassen. Unter lautem Beifall vieler eigentlich kluger Mitmenschen. Ich fasse es nicht. Ich fasse es seit Monaten nicht.

Wer WissenschaftlerInnen derart abergläubisch an den Lippen hängt, steht letztlich auf der genau gleichen Stufe, wie so genannte WissenschaftsleugnerInnen. Sorry, mit Wissenschaft, mit Rationalität hat das alles nichts mehr zu tun.

Charlotte Heer Grau

Wissenschaftlerinnen können sich irren, wird uns immer wieder unter die Nase gerieben. So funktioniere Wissenschaft. Sie könne nur im Diskurs entstehen, müsse Fehler machen und dazu lernen. Wissenschaft sei komplex und die kleine Frau von der Strasse sei halt zu dumm und nicht fähig, dieser Komplexität zu folgen. Darum neigten viele Menschen dazu, Verschwörungstheorien auf den Leim zu gehen. Und ein ganzes Heer von Intellektuellen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Satirikerinnen, Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen, und weiterer Menschen mit zum Teil sehr guter Bildung folgen diesem Narrativ – teils mit einer eigenartigen Inbrunst auf den Sozialen Medien. Auf Twitter signalisieren sie mit grossen, roten Punkten – mir kommen sie immer vor, wie Clown-Nasen – dass sie und nur sie auf der richtigen Seite stehen. Teils mit einem neuen und schier unverhohlenem Klassismus. Wer zudem WissenschaftlerInnen derart abergläubisch an den Lippen hängt, steht letztlich auf der genau gleichen Stufe, wie so genannte WissenschaftsleugnerInnen. Sorry, mit Wissenschaft, mit Rationalität hat das alles nichts mehr zu tun.

Wer reduziert hier Komplexität – und dies im grossen Stil?

Denn genau: Der Mensch ist ein komplexes System, sein Geist, seine Psyche, sein Bewusstsein, sein Gehirn, sein Kreislauf, seine Gene und Zellen bis hin zu den Milliarden von Mikroorganismen, die jeder einzelne Mensch beherbergt. Milliarden Menschen, Milliarden komplexer Systeme leben in komplexen Zusammenhängen, unterschiedlichst geprägt von Politik, Geschichte, Religion, Wirtschaft, Herkunft, Erziehung, Bildung, in einem komplexen System von Welt, von Klima, Biologie, Geographie in einem komplexen Universum. Systeme, die alle in einer komplexen Art aufeinander einwirken. Und das alles in einer Zeit, wo die komplexen Kommunikationsstrukturen noch komplexer geworden sind und zerfleddern. Und nein, wir haben nicht NICHTS verstanden, wir haben schon sehr viel verstanden, aber sehr, sehr viel wissen wir noch NICHT. Und vieles scheinen wir nicht wissen, nicht lernen, nicht verstehen zu wollen.

Wer reduziert hier also Komplexität – und dies im grossen Stil? Und ihr, die ihr jetzt seit Jahren vom Mut gefaselt habt, der ein jeder haben solle, um seiner selbstgewählten Unmündigkeit zu entfliehen, ausgerechnet IHR legt euren Verstand ab und folgt gehorsam, blind und selbstgerecht einer Handvoll Virologen und Modulierinnen? Und glaubt tatsächlich, dass man Milliarden von Menschen, jede einzelne in sich ein komplexes Universum, mit Milliarden verschiedenster Lebensentwürfe, dass man in derart komplexen Systemen mit einem simplen Dreisatz die Lösung hat? Maskierung, Abschottung und Impfung – und die Welt ist gerettet? Habt ihr diesen Weg auch nur einmal halbwegs zu Ende gedacht? Sind wir alle derart bescheuert?

Und die wichtigste Frage: Warum dürfen nur die einen Wissenschaftlerinnen Thesen aufstellen, annehmen dass… und sich irren und vermuten und rätseln, bis zum Gehtnichtmehr – und die anderen sollen schweigen? Bitte warum? Mehrheitswissenschaft, sagt Prof. Drosten zuweilen. Was ist das? Stimmen die Wissenschaftlerinnen seit Neuestem ab, oder wie? Nein danke! Wir brauchen echten wissenschaftlichen Diskurs. Wir brauchen mehr Wissenschaft, nicht weniger! So wie das der deutsche Philosoph Markus Gabriel bereits am 28. Januar 2021 im NZZ Feuilleton forderte (*4):

«Weil wir angesichts einer schier unermesslichen Komplexität nicht endgültig wissen können, wie man mit einer globalen Gesundheitskrise umgehen kann, ohne den Werterahmen demokratischer Rechtsstaaten zu sprengen, ist die neuerdings immer lauter werdende Forderung, endlich einmal so richtig auf die angeblich singulär existierende Wissenschaft zu hören, eine Form der Verblendung. Die Kooperation von Virologie, Epidemiologie und neuerdings vor allem auch der Physik ist prinzipiell unzureichend, um dem Anspruch der Moderne zu genügen, Komplexität auszuhalten, ohne sie auf eine einzige monarchische Spitze zu reduzieren.
Die Vernunft sucht nach Ausgleich, nach einer Mitte, die dynamisch ist. Man kann hier geradezu von einer Politik der radikalen Mitte sprechen, die es sich zur Aufgabe macht, die Extrempositionen zu vermitteln, also den Lösungsraum durch Verhandlungsprozesse zu verschieben. Der in diesen Tagen wieder lauter werdende Ruf nach einer endgültigen wissenschaftlichen, evidenzbasierten Lösung der Pandemie widerspricht genau diesem Anliegen der Moderne, er ist zutiefst unvernünftig, weil er die Komplexität der sozialen Systeme, die an der Pandemie und der Pandemiebekämpfung beteiligt sind, masslos unterschätzt.»

Es ist ein Virus, ja (und mit Verlaub: seine Herkunft ist nach wie vor nicht geklärt!). Aber das bedeutet nicht das Ende der Welt. Wie wir aber damit umgehen, das treibt uns zurzeit schon mal in eine sehr hässliche Dunkelheit.

Warum sind so viele kluge, gut gebildete Menschen unfähig, hier mindestens etwas aufmerksamer hinzusehen und zu verstehen, dass wir nur eines vorantreiben: eine immer grössere Fragmentierung der Gesellschaften und eine Destabilisierung von Demokratien, wo es diese gibt oder wo sie in Ansätzen bereits vorhanden sind und allem voran: Wie kann es sein, dass wir nicht wahrnehmen, dass wir grad nur unserer eigenen panischen Angst erliegen und wissentlich und willentlich Millionen von Menschen, die vorher schon in prekären Umständen lebten, noch tiefer in den Dreck ziehen? «Angst lähmt und Angst frisst Verstand»!

«Ist das Leben?»

Es ist auch das erste Mal in der Geschichte westlicher Demokratien, wo wir uns sprichwörtlich dabei zuschauen können, wie die einen sich mehr und mehr total zurückziehen, sich abwenden und einfach tun, was man ihnen sagt, die anderen zum Teil irr, wirr und verrückt werden, ausgebrannt sind und in Depressionen gleiten – und wieder andere, die immer wütender, dreister, hämischer und verächtlicher mit ihren Mitmenschen umgehen.

Familien zerfleddern, Freundschaften zerbrechen, Gemeinschaften werden geradezu pulverisiert. Es ist – allem voran – das erste Mal in der Geschichte, wo wir uns buchstäblich dabei zuschauen können, wie wir allmählich den Verstand verlieren. «Wir und die anderen». Hört ihr euch eigentlich noch zu, was ihr denkt, was ihr sagt? Und von einem habe ich noch nicht gesprochen: Von unseren Kindern und Jugendlichen. Hier weiss ich gar nicht mehr, was ich sagen soll. Ausser dass Teile in unsere Gesellschaften ihren moralischen Kompass total verloren zu haben scheinen.

Wenn wir nicht jetzt und zwar sofort eine Vollbremsung dieses Wahnsinns einleiten, dann krachen wir ungebremst in eine Situation, welche die meisten von uns nicht wollen.

Ich schaue euch zu, wie ihr immer ungehemmter auf alles spuckt und eindrischt, was euch Angst macht und dabei eure Worte in vermeintlich kluge Argumente packt. Dabei war schier von Anfang an eine zunehmende Infantilisierung auszumachen. Zuerst die bettelnde Sehnsucht nach der Impfung, dann die auf Twitter öffentlich zur Schau gestellte verzweifelte Suche nach einem Impftermin, begleitet von der grossen Anteilnahme in der eigenen Bubble, der eigenen Community. Und die, die endlich ihre ersehnte Impfung hatten, benahmen sich teils wie das Kind in der Zahnpasta-Werbung aus den 70ern: «Mami, Mami, er hat überhaupt nicht gebohrt!». Sie posten Fotos mit ihrem Pflaster auf dem Oberarm kurz nach der Impfung und machen Witze darüber, dass sich jetzt vielleicht ihre Penisse total vergrössern oder verkleinern würden. Die Angst vor dem Virus und das Gefühl, endlich ein kleines bisschen gerettet worden zu sein, war und ist förmlich zu riechen. Mit Solidarität hat das alles wenig zu tun. Mich dünkt es vielmehr ein ungeheurer gut geschminkter Egoismus, übertünchte Angst. Ich erinnere mich daran, was mir eine alte Freundin ein paar Monate zuvor gesagt hatte: „Weisst du was, die haben doch alle einfach Schiss, eine Affenschiss haben die, dass sie krank werden könnten. Dass sie ins Spital müssten und dass dann kein Bettchen für sie frei ist. – Solidarität mit den Alten? Und dann lachte sie ein heiseres, lautes Lachen und wiederholte: Solidarität mit den Alten? Das ist doch einfach eine „grusig“ feige Ausrede!“

Mit Solidarität hat das alles wenig zu tun. Mich dünkt es vielmehr ein ungeheurer gut geschminkter Egoismus, übertünchte Angst.

Charlotte Heer Grau

Meine Mutter hatte es anders formuliert. Im Frühjahr 2020, mitten im spanischen Lockdown, wurde sie 91 Jahre alt. Der Lockdown in Spanien war drei Monate lang knallhart. Wir hätten sie nicht besuchen, nicht sehen und schon gar nicht feiern dürfen. Sie sagte, wenn sie jetzt so das Ende ihres Lebens leben soll, dass sie nicht einmal mehr ihre Kinder sehen und umarmen dürfe, dann sei das kein Leben mehr, dann möchte sie lieber so schnell wie möglich abtreten. «Is this still life?», fragte sie. Wir haben sie besucht, wir haben uns umarmt und wir haben gefeiert.

Wie viele alte Menschen sind in den Lockdowns in Heimen und Spitälern einsam und verdammt verlassen gestorben? Mit unserer «vollen und solidarischen Anteilnahme? Ist uns das bewusst? Wenigstens ein kleines Bisschen?

Tausende von Menschen, Wissenschaftlerinnen und Normalsterbliche, wie ich, denken und äussern sich dahingehend. Aber ich habe bis jetzt geschwiegen. Nur gelesen, und zugehört… Artikel um Artikel, meinen «Freundinnen» auf Facebook und Twitter, meinen ehemaligen Kolleginnen in den Zeitungen und im TV und bin dabei immer stiller geworden, schier krank. Auch hierzu schreibt Markus Gabriel im oben erwähnten Artikel:

«Diese Krise wird paradoxerweise von den jüngsten Errungenschaften des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts befeuert: Die algorithmischen Architekturen der Suchmaschinen und sozialen Netzwerke treffen seit inzwischen einem Jahr auf eine gigantische Menschenmasse, die – ins Home-Office genötigt – gebannt auf die Bildschirme und News-Ticker starrt in der Hoffnung auf eine erlösende Nachricht, die aber ausbleibt.»

Auch ich starre «gebannt auf die Bildschirme», in der Hoffnung auf diese eine erlösende Nachricht. Sie sind nicht wirklich ausgeblieben, diese Nachrichten, so, wie dieser Artikel von Markus Gabriel. Aber sie haben nie wirklich Wirkung entfaltet.

Es ist genug. Das ist mein persönliches Covid-Out. Eine Impfpflicht darf nicht kommen und der Druck, dass sich Menschen nur noch geimpft frei bewegen dürfen, muss weg. Wir müssen andere Wege gehen und diese müssen wir gemeinsam gehen. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Wir brauchen jetzt einen intelligenten und gleichermassen beseelten Aufstand. Oder mit den Worten der spanischen Philosophin Marina Garcés (*5): Wir brauchen eine «Neue radikale Aufklärung»!

«Es gibt indes eine Frage, die keine Art von solutionistischem Dogmatismus je wird beantworten können. [Étienne de] La Boétie hat diese Frage im 16. Jahrhundert als die Wurzel jeder Form von Verweigerung der freiwilligen Knechtschaft angesehen: Ist das Leben? Laut Boétie kann jeder diese Frage stellen und zudem kann sie in allen Lebensumständen auftauchen. Sie beruft sich nicht auf eine berechenbare Objektivität, sondern auf eine Würde, die immer in Frage gestellt werden kann, denn sie besagt, dass es das Ziel des Lebens ist, den Sinn und die Bedingungen des Lebbaren zu gestalten».
Marina Garcés – Neue radikale Aufklärung

*1 «Das Afrika Rätsel» / 16.09.20
https://www.ndr.de/nachrichten/info/56-Coronavirus-Update-Das-Afrika-Raetsel,podcastcoronavirus242.html

*2 «Angst frisst Verstand.» / 01.10.2020
https://www.youtube.com/watch?v=NxObTdaAZfk

*2 Mehr und mehr Menschen benehmen sich wie Kinder, die sich vor einem Monster unter ihrem Bett ängstigen. Da sitzen sie auf ihren Bettchen, wie gelähmt und schaffen es nicht, mindestens den Kopf runter zu strecken, nachzuschauen. Da wären Eltern hilfreich, die sagen, komm, wir schauen uns das mal an und gemeinsam mit ihren Kindern unters Bett kriechen. – Aber nein, diese «Eltern» heute warnen ihre Kinder, möglichst nicht nachzuforschen. Monster unter den Betten sind praktisch. Das Kind bleibt sitzen, angstgelähmt. – Charlotte Heer Grau

*3 Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
https://www.mecfs.de/

*4 «Die menschliche Vernunft steckt gerade in einer Krise: Wie können wir sie auch in irrationalen Zeiten bewahren?»
https://www.nzz.ch/feuilleton/markus-gabriel-ueber-coronaleugner-und-lockdownfanatiker-ld.1598379?reduced=true&mktcval=Facebook&mktcid=smsh

*5 Marina Garcés – Neue radikale Aufklärung – 2017
https://www.turia.at/titel/garces.php