Die hohe Zeit der Erbsenzähler – I.

Und so rufen wir weiterhin auf zu einem wirklichen, friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die masslose Konkurrenz aller gegen alle.

Stephan Hessel «Empört Euch»

Zürich – 2010 (2013)

«Empört euch!» ruft Stephan. Und ich habe mich empört. Über dieses kleine, grüne Büchlein. Über diesen ganzen Berg von kleinen, grünen Büchlein, aufgeschichtet in der Buchhandlung. Feil zu haben. Ich habe mich empört, über diesen Titel, über die ersten Zeilen. Später auch über einiges, was in den Medien darüber berichtet wurde. Weil ich empöre mich – ständig. Wir empören uns – alle. Schweizerinnen und Schweizer sind ein Volk von ständig Empörten. Über die Preise, über verspätete Züge, über das Wetter, über die Nachbarin, über Politiker, über unsere Regierung. Wir sind ein Volk von Empörten, mit der Faust im Sack.

Ja, ich empöre mich. Seit Jahren. Allerdings geduckt. Die Schultern eingezogen. Wütend bin ich, aber auch feige, oder hilflos? Oder beides. Und ich empöre mich über die Empörung. Ich empöre mich, dass wir uns empören aber nicht handeln. Empört euch? Nein, handelt!, rief ich diesem Titel auf dem Stapel entgegen. – Ich habe Hessels Büchlein trotzdem gekauft und gelesen. Mag sein, dass der Titel falsch gewählt, irreführend ist, auf Deutsch, keine Ahnung, diese Diskussion überlasse ich andern, weil sie hier und jetzt unwichtig ist.

Wichtig ist, dass weiterhin möglichst viele Menschen das Essay von Hessel lesen. Allem voran junge Menschen. Hessel spricht aus einer anderen Warte. Er hat eine Welt erlebt, die wir nur – wenn überhaupt – aus Büchern und Filmen kennen. Er sieht aber auch klar, dass es heute schwieriger ist zwischen «Freund und Feind» zu unterscheiden. »Auf welcher Seite stehst du, he!? Hier wird ein Platz besetzt.« Mit dieser Strophe sangen wir noch in den siebziger Jahren gegen den Bau von Atomkraftwerken an und liessen uns von Tränengaspetarden einnebeln und die Haut verätzen: »Hier kämpfen wir für unser Recht, nicht morgen, sondern jetzt«. Wer der Feind war, schien klar. Seit den Zürcher Unruhen in den Achtzigern war ich auf keiner Demonstration mehr. Plötzlich und aus dem Nichts diese brutale Gewalt – auf beiden Seiten. Woher? Warum?

Ich ging nicht mehr auf die Strasse, um meine Meinung kundzutun. War nur mehr Beobachterin, vom Fernsehsessel aus, als Radiohörerin, Zeitungsleserin. Ich bin Journalistin geworden, um hinter die Kulissen schauen zu können. Ich habe die Medien verlassen, als mir bewusst wurde, dass auch wir Journalisten der Wahrheit nicht wirklich näher sind. Vor allem bin ich gegangen, als ich realisierte, dass die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen nicht wahrhaben wollen, wie sehr wir uns selber manipulieren lassen, nur mehr das Sprachrohr einer unsichtbaren aber mächtigen Elite fungieren. Nein, nicht immer und nicht alle. Wir haben noch einige gute und sogar grandiose Journalistinnen und Journalisten in der Schweiz. Eine Handvoll, oder zwei? Ein gutes Dutzend? Das genügt nicht, um diese Aufgabe als vierte Gewalt wahrzunehmen.

Es ist eine Zeit, wo kein öffentliches Wort mehr fällt, das nicht durch eine gut geölte Marketingmaschinerie gelaufen und von einem PR-Menschen auf seine Wirkung hin abgeklopft worden ist, bevor es über die Verdummungsmaschinerie Massenmedien in unsere Hirne geträufelt wird, und uns Bürgerinnen und Bürger zu vollends konsumierenden Vollidioten macht. Sich wehren? Widerstand üben? Gegen wen oder was? Und wie? Demonstrierend? Auf die Strasse? Oder mit einem Klick auf ein Ich-bin-dagegen- oder Ich-bin-dafür-Button im Internet?

Empört euch? Am Schluss seines Traktates legt Hessel seinen Finger auf den wirklich wunden Punkt indem er abschliesst: »Und so rufen wir weiterhin auf zu einem wirklichen, friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die masslose Konkurrenz aller gegen alle«.

Hessel wertet. Hessel bezieht Stellung. Er verlangt einen »friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel«. Er ist nicht der kühle und abstrakte Analyst: »Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden«. Und das ist, was mir an Hessel gefällt, in dieser unserer Welt des wertfreien Denkens: Du sollst nicht werten und du sollst nicht moralisieren. – Diese Phrase ist zu einem Dogma geworden! Es ist ein Leitsatz, den viele Menschen in der Schweiz, allen voran Journalistinnen und Journalisten, wie ein Schild vor sich hertragen: Du sollst nicht werten und du sollst nicht moralisieren. Es gibt einige solcher Leitsätze, die wir unbedacht nutzen, die sich in unseren Hirnen eingebrannt haben, denen wir blindlings folgen. Und dies erinnert mich auf unangenehme Weise an Winston Smith, der Protagonist aus Georg Orwells »1984«: Er fürchtete sich weniger vor der Gedankenpolizei, sondern vielmehr vor eigenen Kollegen, Nachbarinnen, vor Kindern!, die einen beobachteten und denunzieren konnten. Er fürchtete sich vor den Menschen, die welche die Vorgaben der Eliten zu ihren eigenen gemacht hatten und hechelnd gegen jeden vorgingen, der davon abwich: »Gedankendelikt hat nicht den Tod zu Folge, Gedankendelikt IST der Tod.«, schreibt Winston Smith in sein Tagebuch. In den letzten Jahren sind einige Skandale an die Öffentlichkeit gelangt, darüber wie Staaten ihre Bürgerinnen und Bürger überwachen. Der letzte ist jetzt, im Juli 2013, aus den Medien schon fast wieder verschwunden, ist nur noch schwach virulent: die Enthüllungen des jungen US-Amerikanischen Geheimdienstlers Edward Snowden. (Wobei es einigen Medien wieder gelungen ist, alle möglichen Sidelines über Snowden in die Schlagzeilen zu bringen, seine Freundin, eine mögliche Homosexualität, seine Labilität und dergleichen mehr, und den eigentlichen Skandal und die Fakten auszublenden). Worüber aber nie gesprochen wird, was nicht wahrgenommen wird, was nicht erkannt wird, ist, dass der grosse Bruder, der in uns selber hockt, genauso gefährlich und zerstörerisch ist, wie der grosse Bruder Geheimdienst mit seiner immer perfekteren Überwachungsmaschinerie.

Du sollst nicht werten und du sollst nicht moralisieren. – Ich werde mich diesem Verdikt nicht beugen. Ich möchte und werde werten und ich werde moralisieren. Es ist Zeit, Farbe zu bekennen.

Empört euch! Raus mit der Faust im Sack. Nicht um zuzuschlagen, aber um aufzuhören, die Wut oder Machtlosigkeit immer nur runterzuschlucken. Wir können, nein, wir müssen etwas ändern. Noch haben wir in der Schweiz die Gefässe und Strukturen für eine wirkliche Demokratie, also nutzen wir sie um Gottes Willen. Es ist o.k. wenn wir an uns arbeiten, wenn wir versuchen, Dinge anders und besser zu machen. Wir können uns ändern, klar, ständig und stetig etwas verbessern. Anders einkaufen, anders unterwegs sein, anders essen, weniger von diesem und mehr von jenem. Das alles ist gut und nötig. Aber es genügt nicht, nur den eigenen, kleinen Garten vor der Nase in Ordnung zu halten. Wir müssen uns auch einmischen. Fragen stellen und Antworten einfordern – und dies subito: Von Politikerinnen und Politikern, von den Wissenschaften und allen voran von den Medien, mindestens die seriösen sollen ihre Aufgabe erfüllen: Fragen stellen, Antworten einfordern. Die Journalistinnen und Journalisten sind an der Quelle, wären an der Quelle. Mindestens Informations-Journalistinnen. Sie sollen aufhören, Berichte über andere Staaten zu bringen, wo die Presse gegängelt wird und gleichzeitig nicht sehen, wie sie längst selber am Gängelband geführt werden. Sie sollen sich von ihren Verlagen die Zeit zurückholen, die es für einen guten Journalismus braucht. Und sie sollen sich bewusstwerden, was der Journalismus für die Demokratie bedeutet. Wir tragen Verantwortung und müssen uns dessen bewusst sein.

Darum geht es mir hier. Es ist eine Anklage. Ich fordere. Ich klage an. Und ich fordere andere auf, es mir gleich zu tun. Wer ich bin, tut einiges zur Sache: Eine Schweizerin. Mit einem Hintergrund und einer Biographie, die mir einen anderen Blick auf die Schweiz und die Welt ermöglicht. Das sage ich nicht abgeklärt und abgehoben. Und ich bilde mir auch nichts darauf ein. Es ist so und ich werde auch darüber berichten. – Auch wenn ich selber Journalistin bin und viele Jahre für das Schweizer Radio DRS (heute SRF) gearbeitet habe, schreibe ich hier nicht als Journalistin, sondern als Bürgerin, als zornige Bürgerin.

Es ist eine Zeit, wo kein öffentliches Wort mehr fällt, das nicht durch eine gut geölte Marketingmaschinerie gelaufen und von einem PR-Menschen auf seine Wirkung hin abgeklopft worden ist, bevor es über die Verdummungsmaschinerie Massenmedien in unsere Hirne geträufelt wird, und uns Bürgerinnen und Bürger zu vollends konsumierenden Vollidioten macht. – 2013