Zürich, Juli 2013. ( plus update Spain 2022)
Fiesionen und wie die Geschichte mit dem nackten Kaiser wirklich ausgeht. Nicht gut!
Wenn es im Volk rumort, wenn es böse winselt und hechelt, dann ist Vorsicht geboten. In solchen Zeiten werden Monster geboren, still und unbemerkt. Und es hechelt, böse, zurzeit, im Volk. Unkontrolliert. – Es ist die hohe Zeit der Erbsenzähler. Die Zeit der kleinen grauen Männer und Frauen, der folgsamen und fleissigen Buchhalter und Verwalterinnen des Wahnsinns. Sie hecheln, wie Hyänen dem Wild hinterher, jagen es, hetzen es, kreisen es ein und fressen es. Jede Zeit kennt ihr eigenes Wild. Mal sind es die Muslime, mal die Juden, mal Italiener, mal die Frauen, mal die Homosexuellen, mal die Alten und die Kranken. Und es geschieht immer wieder und auch jetzt – trotz der viel bemühten Aufklärung. Zurzeit sind es die Muslime. Meist erwähnt als Islamisten, aber rezipiert wird bei vielen Menschen Islamist auch einfach als «die Muslime» oder «die Araber».
Die Aufklärung, liebe Leserin, lieber Leser, die Aufklärung hat sich schon längst dumm und stumm und satt gebummst in den Betten des Kapitalismus. Da liegt sie, ächzend, dick und fett und krank. Von ihr spricht man zwar, von der Aufklärung, bringt sie immer wieder aufs Tapet, meint damit aber meist irgendwelche diffuse «christlichen Grundwerte» und steht damit wieder auf der Seite der Korrekten. – Es ist eine unerträgliche Zeit.
Da geht er, der Kaiser. Splitterfasernackt. Immer noch und stolz und das Volk jubelt ihm zu. Er verneigt sich, der Kaiser. Sein Bimpeli, sein bluttes, bimmelt hin und her – und alle verbeugen sich. Aber da, da das Kind, es schaut und sieht und lacht und schreit: Der Kaiser, der Kaiser, er ist nackt, splittersplitternackt und das Kind lacht und ruft: Unser Kaiser ist nackt, pudelnackt… Die Menschen strecken die Hälse und recken die Köpfe…

So beginnt das Märchen von Hans Christian Andersen – kurz zusammengefasst. Und enden tut es damit, dass das naive Kind mit seiner unverdorbenen Sicht und seinem unverdorbenen Kindermund die Menschen weckt und es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt, dass der Kaiser nackt und nichts anderes als nackt ist. Eine schöne Geschichte und es wäre schön, sie ginge tatsächlich so aus. Tut sie aber nicht. Diese Geschichte endet ganz anders, glauben Sie mir. Nämlich so:
Entsetzt packt die Mutter das Kind, schttt, Kind, sei still – das Volk, es reckt den Kopf. Und das Kind ruft wieder: aber seht, ist nackt, ist nackt, der Kaiser.
Spinnst du Kind? Sei bloss still! Nicht nackt ist er, das sagt man nicht, was redest du da, schtt, schtt.
Das Gefolge des Kaisers schliesst auf und es schliessen sich die Reihen, versperren dem Kind die Sicht und den Gaffern. Agenten, dunkle Gestalten tauchen auf aus dem Nichts und packen das Kind. Die Mutter lässt es sich entreissen. Verzweifelt zwar, aber sie lässt es geschehen. Denn ihr Kind hat etwas Unschickliches getan und alle starren sie an und ihr dummes Kind. Hämisch schauen sie und lüstern, auf den Tumult, der sich vor ihren Augen abspielt: Die Agenten packen es, verstopfen ihm den Mund und zerren es in den Wagen. Sie rasen weg und bringen es ins finsterste Verliess. Da lebt es, heute noch. Alt und greise. Da schreit es – stumm.
So habe ich diese Geschichte all die letzten Jahre immer und immer wieder zu Ende gedacht. Nur selten habe ich den Moment erlebt, wo ich diese Erfahrung gemacht hätte, dass da ein Mensch sagt: He, seht hin! Und dass mindestens ein Teil der Leute aufgeschaut hätte und sich plötzlich ihres Tuns bewusst geworden wäre. Selten.
Einen kleinen Moment lang glaubte ich allerdings daran, dass es geschähe. Wahrhaftig geschähe: Julian Assange erschien auf der medialen Bildfläche. Assange und die Enthüllungs-Plattform Wikileaks.
Julian Assange ist kein Kind an der Hand seiner Mutter. Er ist ein junger Mann, der nicht nur geträumt hat und von „Es wäre schon toll, wenn wir so eine Plattform hätten, wo jeder Ungerechtigkeiten, Ungereimtheiten von Regierungen deponieren könnte. Assange hat zusammen mit anderen diesen Traum umgesetzt, zeigte mit seinem Finger auf den nackten Kaiser und seine Entourage. Aber nicht Andersens Vision wurde wahr, sondern meine »Fiesion«.
Eine Zeitlang machten die Medien die Plattform zum Hype. Assange und Wikileaks lieferten täglich Schlagzeilen. Nur richteten die Journalisten ihr Scheinwerferlicht – man hätte es ahnen können – nicht auf die entsetzlichen Enthüllungen, auf die brutalste Ermordung von ungeschützten Zivilisten im Irakkrieg, sondern zum einen auf diplomatische Depeschen, in denen deutlich wird, wie tatsächlich über gewisse Verhandlungspartner in den verschiedenen Ländern gedacht wurde, und zum anderen auf den jungen und umtriebigen Assange. Nicht die Tatsache, dass US-Soldaten unschuldige Zivilisten von einem Helikopter aus ins Visier nehmen, wurde zur täglichen Schlagzeile, nicht „Collateral murder“, sondern der Bote selber. Assange, ob er das will oder nicht, er ist ein gefundenes Fressen für die Journaille. Mit seiner Biographie, seiner Intelligenz, seiner Jugendlichkeit, seinem hellen Haar. Der Mann ist eine Story für sich, darum geht es, nicht um seine Botschaft. Baut ihn auf, ein paar Tage lang, ein paar Wochen, so lange er etwas hergibt, dann können wir ihn umso schöner abstürzen lassen – und zerreissen.
Der junge Mann wird medial zerfleddert. Ich weiss nicht, ob Julien Assenge zwei Frauen in Schweden sexuell belästigt, vergewaltigt oder was auch immer hat. Zurzeit weiss das niemand. Es wäre schlimm. Nur hier spielt das – sorry – keine Rolle. Es ist nach wie vor eine Anklage und kein Urteil. Und gerade weil ich weiss, weil wir wissen, dass immer wieder, wenn Recht gesprochen wird, Unrecht manifestiert werden kann, steht es mir und uns nicht zu, hier Stellung zu beziehen. Denn ich und wir alle Dritten wissen es schlicht nicht. Wichtig für die Weltgemeinschaft aber sind die Tatsachen, die Wikileaks enthüllte. Filme, Depeschen, Informationen die Eins zu Eins die brutale Verlogenheit des US Militärs aufzeigen.
Nur, von den meisten, selbst intelligentesten Journalisten, kamen mehr abwehrende Aussagen: „Eigentlich ist nicht viel Neues dabei“! – Diesen Satz hörte oder las ich von vielen. Eigentlich ist nicht viel Neues dabei? Wie bitte? Auch wenn ein paar wenige in der Öffentlichkeit mindestens ahnen, dass dieser Krieg ein dreckiger Krieg ist: Der Öffentlichkeit ist dies nach wie vor nicht wirklich bewusst. – Nichts Neues? Tag für Tag werden wir mit irgendeinem Gelabber über den Irakkrieg zugedeckt. Hunderte von Journalisten und Journalistinnen sitzen Tag für Tag und Tag und Nacht vor dem Ticker, lesen die Agenturmeldungen, picken gekonnt und gewandt die „richtigen“ heraus und basteln daraus Nachrichten. News.

Erschütternd ist – noch einmal – dass viele Medien diese Enthüllungen nicht, nur kurz oder gar nicht weiter verbreiten, dass sich Journalisten und Journalistinnen nicht mit den Informationen von Wikileaks auseinandersetzen, sondern sich – wie meist – bequem auf die Meldungen stützen, die ihnen die Agenturen mundgerecht aufgearbeitet liefern, mit aufbereiteten Film- und Tonspuren.
Die meisten News-Journalisten und -Journalistinnen scheinen verwirrt. Und sie haben weder den Mumm noch die Kompetenz hier adäquat zu reagieren. Sie schreiben sich nicht wirklich gegenseitig ab. Dazu werde ich später noch kommen. Sie werden auch nicht für irgendwelche Falschmeldungen bezahlt. Auch das nicht. Viele sind einfach Erbsenzähler. Sie übernehmen die Meldungen von den Agenturen, ganz selten gibt es vielleicht noch ein Telefon mit dem Experten, der in der Agenturmeldung zitiert wird und das war es dann auch schon. und versteigen sie regelmässig zum gleichen Schluss: „Alles Enthüllte war schon irgendwie bekannt.“ – Alles Enthüllte war schon irgendwie bekannt? Mag sein, liebe Kollegen, dass das eine oder andere „schon irgendwie bekannt war. Mindestens E u c h bekannt war, aber die Öffentlichkeit hat davon nichts mitbekommen, darüber habt ihr nicht berichtet! Es war bis anhin kein Thema.
Was Wikileaks inhaltlich beitragen könnte, Menschen in allen Staaten darüber zu informieren, was real in der Welt geschieht und unter welchem Deckmantel, verschwindet hinter der Personality Geilheit von Medien und Medienschaffenden. Aber dieser Fakt wird dem vermeintlichen Akteur zugeschrieben. In diesem Fall dem umtriebigen Julian Assange.
Diese Mediengeilheit, welche die Medien ihren Protagonisten so gerne zuschreiben, diese gibt es nicht. Wer schon einmal versucht hat, mit einem Problem, einem Anliegen, einer Geschichte in die Medien zu kommen, weiss, wovon ich spreche. Man muss ein Haus abfackeln, eine Bombe legen oder sich nackt mit dem Präsidenten zeigen, um als Normalsterbliche mediale Aufmerksamkeit zu bekommen. Nicht einzelne Menschen sind geil, in die Medien zu kommen, sondern die Medien nutzen die Andersartigkeit und Hilflosigkeit Einzelner um die vermeintliche Lust der Gaffer zu befriedigen.
Guter Journalismus liegt, genauso wie die Aufklärung, auf dem Sterbebett. Und ja, ich bin hier und jetzt etwas plakativ und undifferenziert. Aber es steht schlecht um unsere Medien – und ohne unabhängige Medien, keine Demokratie!
Juni, 2022: Julian Assange sitzt immer noch unter unmenschlichen Bedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in England. Da, wo nur die gefährlichsten Verbrecher in UK einsitzen und ihm droht nach wie vor die Auslieferung in die USA. Die meisten Menschen glauben immer noch, Assange sei ein Vergewaltiger und Verräter. – «Wie ist es möglich, die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt so gegen einen Mann aufzubringen? Assange ist mit Beweisen für Kriegsverbrechen der Mächtigen an die Öffentlichkeit getreten. Das ist Faktum. Alles andere wurde nachher konstruiert und extrem dominant in die Öffentlichkeit gepresst. Ich finde es unglaublich beängstigend, dass unsere Wirklichkeitswahnehmung derart dominiert ist». Das schreibt nicht irgendein durchgeknallter Verschwörungstheoretiker, sondern ein Schweizer Diplomat. Und dass es extrem viel braucht, dass ein Schweizer Diplomat seine Contenance derart verliert und derart Klartext spricht, sollte uns allen bewusst sein. Nils Melzer, der sich anfänglich gewehrt hatte, sich mit Julian Assange auseinanderzusetzen, er, der UNO-Sonderberichterstatter über Folter, setzt sich dann aber mit Julian Assange auseinander. Sein Bericht ist niederschmetternd. Aber trotz dieses Berichtes und vieler Artikel und Interviews im August 2021: Julian Assange sitzt heute noch, Juni 2022, wie ein Schwerverbrecher im Hochsicherheitstrakt in Belmarsh. – Wie unglaublich korrumpiert und verblendet sind wir alle? Was verdammt noch mal wird uns endlich zur Besinnung bringen?
«Wie ist es möglich, die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt so gegen einen Mann aufzubringen? Assange ist mit Beweisen für Kriegsverbrechen der Mächtigen an die Öffentlichkeit getreten. Das ist Faktum. Alles andere wurde nachher konstruiert und extrem dominant in die Öffentlichkeit gepresst. Ich finde es unglaublich beängstigend, dass unsere Wirklichkeitswahrnehmung derart dominiert ist.»
Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter über Folter, 2021