„Solidarität mit den Alten? Frag sie! Frag sie, wie oft sie in den letzten Jahren ihre Mutter oder den Grossvater im Altersheim besucht haben. Frag sie, diese feigen Höseler!“
Spain – August 2020
Hannah wird dieses Jahr 90 Jahre alt. Sie ist Mutter, Grossmutter und arbeitete als Lehrerin. 1992 liess sie sich frühpensionieren, um ihren kranken Mann zu pflegen. Zwei Jahre nach seinem Tod begann sie mit Besuchen in zwei Altersheimen. Jahrelang besuchte sie zusammen mit ihrem Hund die alten Menschen. Sie unterhielt sich mit ihnen, sang mit ihnen, las ihnen vor oder spielte ein Spiel. Mit 72 Jahren dann übersiedelte sie ganz nach Spanien.

Sie lebt hier alleine, schon bald zwanzig Jahre. Sie facetimte regelmässig mit ihren Kindern und Verwandten in der Schweiz. Sie geht erstaunlich locker um mit dem Computer, aber Facebook, Twitter, Instagram und Co. kennt sie schlechter. Vor ein paar Wochen wollte sie wissen, was das ist mit diesem Twitter und Facebook und so. Weil ich wieder einmal lauthals wetterte. Ich las ihr einiges vor, was da abgeht. Ruhige, informative Tweets mit Links, aber auch was im Zusammenhang mit Covid-19 abging.
Sie hörte mir aufmerksam zu. Bei den „Solidaritätskundgebungen“ wurde sie noch hellhöriger. Tweets wie: „Bleibt verdammt nochmal zuhause“. – „Diese Rücksichtlosigkeit alten, wehrlosen Menschen gegenüber! Ich kann nur noch kotzen“. Ich las es ihr vor, zusammen mit Dutzenden von Kommentaren, die so oder ähnlich folgten. – „Ah, sagte Hannah nachdenklich: „Ah, da scheinen ein paar Leute ja plötzlich die Alten zu entdecken? Und den Tod? – „Du, frag sie mal, wie oft sie ihre Eltern, oder Grosseltern im Altersheim besucht haben, in all den letzten Jahren. Frag sie mal, kannst du das? – Aus Solidarität mit den Alten nicht mehr hinausgehen? Zuhause bleiben?“ Und dann legte sie los.
„Weisst du wieviele Angehörige ich früher traf bei meinen Besuchen im Alters- und Pflegeheim? Das kannst du an einer Hand abzählen. Was soll das ordinäre Gefluche hier? Wenn Grossmami Geburtstag hatte, dann kreuzte manchmal ein Teil der Familie auf. Mit Kuchen und Gekreisch. Oder man ging mit Papa spazieren, wenn es hochkam einmal im Monat! Weisst du, einmal hatte ich eine ältere Dame. Vor Weihnachten war sie sich sicher, dass sie es nicht mehr lange machen würde. Das war 1996 oder so. Sie hatte so gehofft, dass ihre Kinder, „erwachseni Mänsche!, sie besuchen würden. Einmal, nur noch einmal noch. Sie habe so gebettelt, dass Hannah aus Mitleid schliesslich den Sohn kontaktierte, was ihr eigentlich nicht gestattet war. Aber der Sohn habe abgelehnt. Er habe so viel zu tun und die Familie und der Job und „Nein, leider“, er könne nicht. Die Frau verstarb noch vor dem Neuen Jahr. Alleine.
Hannah trommelte mit dem Finger auf dem Tisch. Zeigte auf mein Smartphone: „Weisst du was, die haben doch alle einfach Schiss, eine Affenschiss haben die, dass sie krank werden könnten. Dass sie ins Spital müssten und dass dann kein Bettchen für sie frei ist. – Solidarität mit den Alten? Und dann lachte sie ein heiseres, lautes Lachen und wiederholte: Solidarität mit den Alten? Das ist doch einfach eine „grusig“ feige Ausrede!“
Wie alt denn diese Leute seien, fragte sie nachdem sie sich beruhigt hatte und ich ihr einen weiteren Thread vorgelesen hatte. Einen mit besonders vielen ähnlichen Kommentaren gegen „Covidioten“ und „Maskenverweigerern“, denen man teils geradezu den Tod wünschte, damit sie endlich merken, wie es ist, nicht solidarisch zu sein.
Keine Ahnung, antwortete ich ihr. Da ist wohl jedes Alter. Geschätzt zwischen 29 und 69, keine Ahnung. – Hannah wurde still. Sehr still und fragte schliesslich: Was passiert eigentlich gerade? Dieser Corona-Virus ist ja schrecklich. Aber wie diese Menschen reagieren, macht mir viel mehr Angst. Aus Solidarität die alten Eltern nicht besuchen zu müssen, wie verlogen kann man eigentlich sein?“
Ich wollte ein Interview mit Hannah machen über ihre Gedanken. Aber sie meinte nur „Untersteh dich!“. So hab ich es hier zusammengefasst. Sie sind mir unter die Haut, ihre Worte. Und erinnerten mich an die Zeit, wo ich meinen eigenen Vater regelmässig im Pflegeheim besucht hatte. Ich besuchte ihn oft. Es war nur ein Jahr nach dem Tod meines Mannes. Ich hatte Zeit und brauchte Zeit und dieses Zusammensein mit meinem Vater war irgendwie immer auch Trost. – Während diesen drei Jahren lernte ich zwei andere Frauen kennen, die oft da waren. Eine kam praktisch täglich und half ihrer Mutter beim Essen. Ansonsten? Man traf Frauen, alte Frauen wie Hannah, die Besuche machten. Alleine, oder mit ihren Hunden. Und natürlich das Pflegepersonal. An Weihnachten und Ostern kreuzten Familien auf. Assen Kuchen und tranken Tee, um dann für Monate wieder zu verschwinden.
Wisst ihr was, hört mir auf mit dem Solidaritätsgequatsche. Ich kann es nicht mehr hören.