Das Gewicht eines grossen Irrtums.
Zürich, 2015 (plus update 2024)
Mir ist, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Bereits 1985 schreiben die Soziologinnen Cheryl Bernard und Edit Schlaffer in «Der Mann auf der Strasse» (*1) im Bezug auf Texte von «Geschlechtsrollenkritikern», die davor warnen, dass Männer epidemieartig mit Impotenz auf die Frauenbewegung reagieren: «Bei der Lektüre dieser soziologischen Texte gewinnt man den Eindruck, dass Impotenz die einzige stumme, aber ausdrucksvolle männliche Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen im Bereich des mitmenschlichen Zusammenlebens ist. Der Schreck sitzt ihnen, so könnte man die gängige männliche Geschlechtsrollenkritik resümieren, in den Gliedern.» Und weiter: «Ohne übermässigen Optimismus kann man dennoch feststellen: manchmal setzt sich doch die Gerechtigkeit durch, letztlich und ansatzweise. Die Zeitalter des Herrenvolkes gehen vorüber.» (Bernard/ Schlaffer 1981).
Das war vor 30 Jahren! Die Zeitalter des Herrenvolkes sind mitnichten vorüber gegangen. Nein, das «Herrenvolk» kam mit seiner ganz eigenen Lösung für dieses «Problem». Pfizer erfand eine neue Krankheit. EDF, Erectile Dysfunction und mit ihr das Medikament dagegen. Der Mann musste wieder nicht lernen, über sich, seine Befindlichkeit und seine Ängste zu sprechen. Der Markt wurde mit Viagra geflutet.
Vor ein paar Wochen fiel mir folgender Satz ein: «Das einzige Glied in einer Gesellschaft, das sich nicht beherrschen lässt, ist das männliche Glied». Ein wunderschöner Satz. Schön stimmig für unsere Zeit. Denn Männer sind schwanzgesteuert. Männer wollen nur das eine, sie wollen Sex – und Macht. Sie wollen herrschen. Im gleichen Moment aber, in dem ich diesen Satz niedergeschrieben hatte, wurde mir bewusst: Der Satz steht zwar für das, was viele von uns Frauen über Männer denken und was Männer über sich selber denken. Es ist, was man uns einbläut. Und dies wohl nicht nur im Westen. Aber der Satz hat einen grossen Schönheitsfehler: Es verhält sich genau umgekehrt: Das einzige Glied in einer Gesellschaft, das sich wirklich beherrschen lässt, ist das männliche Glied.
Es ist mehr oder weniger egal, was Männer (nicht Angehörige des Herrenvolkes) fühlen oder sagen. Wenn sie nicht feministisch daherreden, werden sie zu Boden gehechelt. Egal in was für einer Runde ich sitze und diskutiere (Männer und Frauen, nur Frauen, gebildete Männer und Frauen, nur gebildete Frauen) wenn das Gespräch auf Frauen und Männer kommt, endet es immer in «Frauen sind anders», «Frauen sind empfindsamer», «Frauen würden anders führen», «Wären mehr Frauen in Führungspositionen, wäre die Welt anders», «Frauen sind die besseren Menschen». So schwatzt man daher. Das ist Mainstream. Das Gegenteil allerdings auch: Die bodenlose Schwärmerei. Dabei geht es aber selten um Bekannte oder Verwandte. Hier geht es dann um irgendwelche Filmfiguren. Das geht jetzt so seit Jahrzehnten. That’s the fucking point.
Und die emanzipierte Frau gibt heute ihren Töchtern ohne Wimpernzucken Barbies zum Spielen, bemalt deren Zimmer barbie-rosa und denkt sich nichts dabei, wenn ihre Mädchen nichts als Mode im Kopf haben. Es sind nicht mehr tradierte Rollenbilder, die unsere Handlungen leiten, sondern die Werbung, gut geöltes Marketing und unsere willfährige Haltung des »Alles ist möglich» und dem neuen ersten Gebot: «Du sollst nicht werten». Es sind die neuen Rollenbilder, oder gut verpackte alte Rollenbilder. Es sind die neuen, nicht hinterfragten Fixpunkte in unseren Hirnen. Heute mit anderen Vorzeichen. Wir Frauen haben (hätten) heute die ganze Klaviatur zur Verfügung. Wir können (theoretisch) jede Rolle spielen. Und viele spielen sie gekonnt. Am allerliebsten ist mir dabei die Anwältin, die sich stolz als Gala-Leserin outet und nix, aber auch gar nix Schräges dabei findet.
Die Alternative ist für mich dabei mitnichten die coole, skrupellose Chefin, die die gläserne Decke gesprengt hat. Sie ist mir genauso suspekt und ungeheuer, wie ihr männliches Pendant. Diese Art des Handelns, diese Art des Führens, diese Art der Wirtschaft, ein Unternehmen alleine im Sinne mächtiger Shareholder zu führen, Belegschaft zu kündigen, um Aktienkurse in die Höhe zu treiben, ist nicht, was eine gesunde Weltwirtschaft braucht, geschweige denn die Menschheit. Hier haben, das wissen wir sehr gut, auch die wenigsten Männer einen Platz. Das ist der springende Punkt. Diese so genannte „gläserne Decke“, welche die wenigsten Frauen sprengen können, aber eben auch nur wenige Männer. Das ist nie ein Thema. Zudem: diese Decke ist mitnichten gläsern. Gläsern hiesse, sie wäre transparent. Diese Decke ist aber eher der Boden eines Panzerschranks. Undurchdringlich. (Das ist ein wichtiges, aber anderes Thema).
Die Kampagne «He for she» für Gleichberechtigung von Mann und Frau der UNO ist 2014 gross angelaufen. Einen Moment lang dachte ich JA! Und: ENDLICH! In ihrer Rede betonte Kampagnen-Botschafterin Emma Watson, ehemals weibliche Hauptfigur in den Harry Potter Filmen, dass wir keine Gleichberechtigung bekommen, wenn immer nur die eine Hälfte der Menschheit zu dieser Debatte eingeladen ist. Ausserdem meinte sie, müsse die Gleichung Feminismus = Männerhass aufhören: «He for she», sagte sie, aber auch «She for he». Es wäre, was wir alle gebraucht hätten: Ein «Für einander einstehen». Allerdings ist die Kampagne mitnichten so angelegt. Ein «He and she for us», wie es die Journalistin Cathy Young in der Time vom 26. September 2014 unter dem Titel «Sorry, Emma Watson, but HeForShe is rotten for men» kritisch anmerkt. Die Männer seien bloss eingeladen, sich für die Frauen einzusetzen. Seid Gentlemen, klickt für uns, heisst das unter dem Strich. Stand März 2015 sind es weltweit etwas mehr als 263’000 Männer. That’s all.
Es geht nicht um den Unterschied zwischen Frauen und Männern!
Frauen sind anders, ja. Jede Frau ist anders als jede andere Frau. Sie ist ein möglicher eigener Kosmos in sich. Und jeder Mann ist anders als jeder andere Mann. Was uns alle in der Regel ein bisschen unterscheidet, ist, dass dem Mann zwischen den Beinen sein Pimpeli runterhängt und die Frau eine Vagina hat und Brüste. In der Regel. Der Kleine Unterschied ist tatsächlich klitzeklein, federleicht, nur ein paar wenige Gramm schwer. Eine Handvoll von einem kleinen, feinen, zarten, schwabbeligen, schrumpeligen Häufchen Etwas.
Der Penis – zusammen mit den Hoden – verletzlich, empfindlich und empfindsam, verpackt und immer gut versteckt. Und das ist er die meiste Zeit seines Daseins. Das medial verbreitete Narrativ allerdings ist ein anderes: Der Penis, ein ständig erigierter, harter Phallus. Symbol für wahre Männlichkeit, für Kraft und Ausdauer und Stärke. Und auch für Brutalität. Dieses Symbol steckt wie ein Pfahl in vielen Köpfen. Dieses falsche Bild durchdringt und beschädigt Seelen. Denn eigentlich und in Wahrheit: es ist eben meist ein verletzliches Häufchen Etwas aus Haut, Schwellkörpern, Arterien und Nerven. Da ist nicht viel mehr. Und so kommen mir viele Männer vor. Sie versuchen irgendetwas darzustellen, was sie gar nicht sind. Stehen breitbeinig da, während sie innerlich vor Angst zittern. Nur weil sie meinen, einem Bild von wahrer Männlichkeit entsprechen zu müssen. Gesprochen wird nicht darüber. Es hängt einfach immer im Raum. So wachsen viele Jungs auf. So werden sie irgendwie zu Männern, die nach aussen irgendwie funktionieren, aber ständig verstecken müssen, wie unsicher sie tatsächlich sind.
Der grosse Unterschied wiegt ungleich schwerer und trennender.
Dieser liegt nicht zwischen Frau und Mann, sondern zwischen Macht und Ohnmacht. Die Macht und Deutungshoheit der Eliten gegen die Ohnmacht „normaler“ Frauen und Männer. Unser Problem ist nicht das Testosteron gesteuerte Monster, sondern dass ein Teil der Menschheit mit Zerrbildern, aber auch mit Demütigungen, Überforderungen, Kränkungen zu Testosteron getriebenen Wesen abgerichtet wird. Die Elite braucht dieses Narrativ zwingend, um ihre Macht zu bewahren. Es ist nicht nur «Teile und herrsche», es ist «Teile, säe Zwietracht – und herrsche».
Darum glaube ich, dass uns die Feminismus Diskussion keinen Schritt weiterbringt. Seit Jahren dreht sie sich offensichtlich in einer Endlosschlaufe im akademischen und medialen Kreis, gegen den Wind grosser Marketing- und Medienkonzerne. Das ist der Punkt. Und wir wundern uns darüber, dass sich immer noch zu wenig ändert. Wir wundern uns, dass wir immer wieder wie schier bei null beginnen. Immer noch haben viele Männer kaum Vorbilder, kaum Instrumente, kaum Alternativen und kaum wirkliche Gesprächspartner oder Gesprächspartnerinnen. Die Ängste, seinen Mann nicht zu bestehen, zu versagen, es nicht zu bringen, haben allenfalls auf der Couch der Psychologen ein bisschen Platz. Aber wirklich auf gleicher Augenhöhe begegnen sich die wenigsten Männer und Frauen. Wir kennen uns immer noch verdammt schlecht. Sehen «Bilder» voneinander und Bilder von uns selbst, aber nicht die Realität – und auch nicht die dahinter liegenden Mechanismen.
Das heisst nicht, dass es sie nicht gäbe! Mein Vater war ein „anderer“ Mann. Ich weiss, dass es sie gibt, dass Männer, grossartige, feinfühlige, empfindsame Menschen sein können. Die es allerdings verdammt schwer haben in einer Gesellschaft, die Rücksichtslosigkeit, Härte und Profitdenken als männlich ansieht. Mein zweiter Mann war auch so. Ha! Mit ziemlich viel Testosteron ausgestattet, anders als mein Vater, aber eben auch mit der Fähigkeit, zu reflektieren. Feinfühlig auf andere Menschen einzugehen. Mitgefühl auszudrücken. emphatisch sein zu können. Was beiden allerdings abging, was schier allen Männern abgeht, war die Fähigkeit, sich Verletzungen einzugestehen, eigene Gefühle nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch zu formulieren. – Weinen zu können? Darum geht es nicht! Ich kenne Männer, die können auf Knopfdruck wässerige Augen bekommen und losheulen. Und genau wissen, dass sofort eine tröstende Hand da ist. Es geht um viel mehr…
Ein wirklicher Schritt wäre – auf beiden Seiten – sich von Bildern und Vorurteilen zu lösen, sich auch von Bildern über sich selber zu verabschieden, weder sich noch seinem gegenüber etwas vorzumachen und – allem voran: endlich aufzuhören, den Einfluss und die Wirkung all dieser Schrottfilme und Klatschmagazine zu relativieren und davon zu faseln, dass jeder Mensch sich schliesslich selber für oder gegen diesen Einfluss wehren könne. Wir können es nicht.
Ich brauche keinen „neuen Feminismus“. Ehrlich. Mich dünkt wirklich, wir drehen uns im Kreis. Wir brauchen wache Menschen, wache Journalistinnen und Journalisten, wache WissenschaftlerInnen, Frauen und Männer, die täglich und immer wieder und in allen möglichen Zusammenhängen (Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Religion! Kultur, Mode etc. etc. etc.) diese Mechanismen hinterfragen und aufzeigen. Nicht hämisch hechelnd, sondern nüchtern und aufklärend, weltweit vernetzt. Im Bewusstsein, dass all diese Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur eines sind: Menschen, beinflussbar und manipulierbar. Aber wir können uns Schritt für Schritt, Gedanke für Gedanke, aus diesem Teufelskreis lösen. Ohne Viagra. Wenn wir diese Bilder zurechtrücken.
Und: Wenn wir unseren Kindern den Raum geben, den sie brauchen, ohne alte Bilder und Vorurteile. Auch ohne neue Bilder und neue Vorurteile… ihnen den Raum geben, sich entwickeln zu können, zu lernen, ohne von Anfang an in irgendeine Schublade versorgt zu werden, wie der neue Mann zu sein hat, oder die neue Frau.
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Update 2024: auch Lesen!
„The man they wanted me to be – Toxic Masculinity and a Crisis of Our Own Making”.
Das Buch vom US-amerikanischen Journalisten und Autor Jared Yates Sexton habe ich leider erst jetzt entdeckt. Sexton beschreibt minutiös seine eigene Mannwerdung. – Satz für Satz, Wort für Wort bestätigt dieses Buch meine Wahrnehmung. Sexton, hineingeboren in ein ärmliches Arbeiterviertel in einer kleinen US-amerikanischen Stadt. Ein sanfter und nachdenklicher Junge, der mit seinem Wesen überall aneckt. Wenn sein Vater und die späteren Stiefväter nicht auf ihn einprügeln, dann sind es die Jungs in der Schule. Bis er lernt, sich die gewünschte Maske anzueignen, selber «ein ganzer Kerl» zu werden. Und bis er einigermasssen zu sich selber findet.
«The masculinity that’s being sold, that’s being installed via systematic abuse, is fragile because, again, it is unattainable. Humans are not intended to suppress their emotions indefinitely, to always be confident and unflinching. Traditional masculinity, as we know it, is an unnatural state, and, as a consequence, men are constantly at war with themselves and the world around them.»
Erschienen ist «The man they wanted me to be» 2019. Es ist leider immer noch nur in englischer Sprache zu haben. – Wer immer kann: Lesen!