29.03.2023/ Spain
Wir brauchen richtige Aufarbeitung, Mea Culpa genügt nicht mehr.
«Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können wir einander zuschauen, wie wir mehr und mehr den Verstand verlieren». Das schrieb ich vor über einem Jahr und… hörte wieder auf zu schreiben. Schwieg. Sass. Las. Recherchierte…
Wir drehen uns im Kreis, in einem teuflischen Kreis. Das ist, was mich seit fast drei Jahren umtreibt: dieser geistige Stillstand in unseren Ländern. Ich habe jetzt jahrelang geschwiegen. Nicht weil ich nicht schreiben wollte, sondern weil ich nicht konnte. Hier ein Post auf Twitter, dort einer auf Facebook. Ansonsten Totalblockade… mehr damit beschäftigt, selber nicht ganz verrückt zu werden, den Verstand nicht ganz zu verlieren, zu versuchen zu verstehen, was in unseren Gesellschaften zeitgleich passiert.
Es verheisst nichts Gutes, wenn der Vize Chefredaktor der grössten deutschen Regionalzeitung (WAZ) immer noch keine Einsicht haben will. Wer im März 2023 schreiben kann «Wir sind verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen“, scheint mir politisch blind, sieht nicht, dass es noch lange nicht zu Ende ist. Ich spreche dabei nicht nur von Corona, sondern vor allem von dem zerstörten Vertrauen Hunderttausender von Menschen in ihre Regierungen, in ihre Medien, in die Wissenschaft. Ich spreche von zerstörtem Leben, zerstörten Karrieren, von einer fast 3-fachen Zunahme von Suizidversuchen bei Kindern und Jugendlichen… Ich spreche von zerstörtem Vertrauen.
Im Jahre 2010
«Es ist Zeit daraus zu lernen, um es besser zu machen. Wenn nicht, diskreditiert sich die WHO selber und beim nächsten wirklich gefährlichen Virus wird sie niemand mehr ernst nehmen.» – Liliane Maury Pasquier, die damalige Schweizer Ständerätin und Präsidentin der Gesundheitskommission des Europarates, äusserte diese Worte deutsch und deutlich gegenüber dem Schweizer Fernsehen im Frühling 2010 in einem Beitrag der Rundschau. Damals mussten Vertreter der WHO vor dem Europarat Red und Antwort stehen für das weltweite «Schweinegrippe-Debakel».
Es wurde damals Aufarbeitung versprochen. Allein von einer Aufarbeitung konnte in der Folge keine Rede sein. Darum nochmals und Wort für Wort Maury Pasquier im Jahre 2010: «Es ist Zeit daraus zu lernen, um es besser zu machen. Wenn nicht, diskreditiert sich die WHO selber und beim nächsten wirklich gefährlichen Virus wird sie niemand mehr ernst nehmen.»
«Es ist Zeit daraus zu lernen, um es besser zu machen. Wenn nicht, diskreditiert sich die WHO selber und beim nächsten wirklich gefährlichen Virus wird sie niemand mehr ernst nehmen.»
Liliane Maury Pasquier, Schweizer Ständerätin 2010
Wenn Regierungen und allen voran die Medien jetzt wieder meinen, nicht genauer hinschauen zu müssen, dann wundert euch nicht. Das Mea Culpa von Alexander Neubacher ist schön und gut, allein es genügt nicht. Da braucht es mehr.
Es ist meines Wissens das erste Mal in der Geschichte unserer Demokratien, dass WissenschaftlerInnen der Mund verboten wurde. Wirklicher wissenschaftlicher Diskurs wurde ausgesetzt, zensuriert. – «Ich fürchte, der Diktator in uns war ziemlich stark»? Nicht nur Alexander Neubacher sollte das fürchten. Wir alle sollten hier hinsehen und uns bewusstwerden, was wir in diesen letzten Jahren zuliessen – ohne Scham, ohne Wimpernzucken und verstehen lernen, was Angst mit uns Menschen macht. Ja, auch JournalistInnen sind nur Menschen. Aber mit ihrer Redaktion im Rücken und im Bewusstsein um ihre Aufgabe und Rolle in Demokratien MÜSSEN JournalistInnen fähig sein, sich trotz eigener Angst für die Demokratie den Diskurs zu erzwingen und sich nicht hinter einem infantilen «Follow the science» verstecken.

Wir brauchen Aufarbeitung. Veritable Aufarbeitung. Allem voran von den Leitmedien. Aussitzen und einseitige Schuldzuweisungen werden nicht funktionieren, fürchte ich. Wir können so weitermachen und alle Verschwörungstheoretiker schimpfen, die Aufklärung fordern, aber sollen uns dann verdammt noch mal nicht wundern, wenn das Schiff mehr und mehr nach rechts kippt… Denn die Rechte und die Rechtsextremen wissen genau, wo sie fischen können. Aufklärung und Demokratie gehen denen am Arsch vorbei. Meine unflätige Ausdrucksweise hier möge man mir entschuldigen. Aber ich bin so wütend. Man kann sich die eigene Rolle bis zum Gehtnichtmehr schönreden, man kann alles relativieren und darauf beharren, dass es keine Fragmentierung der Gesellschaften gibt und darauf beharren, dass eine Mehrheit mit den Massnahmen, den Lockdowns, Maskierungen und Co. einverstanden waren und dass alle anderen Idiotinnen, rechtsextrem und fehlgeleitet sind.
Man könnte sich aber auch endlich eingestehen, dass man eklatante Fehler begangen hat. Man könnte sich jetzt auch endlich eingestehen, dass man selber fehlgeleitet war. Und ich schwöre: der Grossteil der Zuschauenden, HörerInnen und LeserInnen würden es begrüssen. Könnten einlenken, würden es honorieren und mit der Zeit ihr Vertrauen in die Medien zurückgewinnen. Mit der Zeit.
Dazu auch mein Essay: Wer einmal lügt. – Ein offener Brief an Peter Schneider (Juli 2022)