Februar 2017 und April 2021
Update August 2021
Mit allen hast du dich ins Bett gelegt. Aber ja, wir haben dich gehen lassen und das, bevor du richtig erwachsen warst. Dem Markt haben wir dich überlassen, diesem verdammten Zuhälter.
Du und wir alle sind auf seine Versprechen hereingefallen. Die grosse Freiheit hat er versprochen, die absolute Freiheit. Und dann hat er dir eine Verrichtungsbox zugeteilt.
Alle haben sich deiner bemächtigt, alle ohne Ausnahme. Die Kapitalisten, die Kommunisten, die Richter, Politiker und die Kirchenoberen, Investoren und Firmenbosse, die Verlagsherren, die Intellektuellen und die Wissenschaftler – alle vergehen sich an dir, wieder und immer wieder. Es sind die Erbsenzähler und ihre selbstgerechten Handlanger. Und auch die eine oder andere Frau wird heute zu dir vorgelassen, wenn sie ihre Prüfungen abgelegt hat. Dass sie käuflich ist, dass sie blind gehorcht, wenn sie blind gehorchen soll und dass sie ihresgleichen verabscheut.
Und sie geben vor, nur mit dir reden zu wollen. Sie geben vor, von dir lernen zu wollen, dein Wissen in die Welt zu tragen. Manch einer schwärmt dir vor, wie er dich retten wird aus deinem Gefängnis.
Doch keiner will, keiner traut, dir wirklich den Weg hinauszuweisen, dich loszukaufen. Denn letztlich wollen alle, dass alles so bleibt, wie es ist, dass du bleibst, wo du bist, wo man dich unter Kontrolle hat, wo man dich bemühen kann, wie es einem passt, wo du keine Gefahr wirst für das Gefüge, das seit Jahrhunderten so funktioniert, wie es funktioniert.
Wenn sie ihre Hosen hochgezogen haben, treten sie heraus, fahren mit der Hand durchs Haar, legen die Stirn in Runzeln und faseln geschwurbelt daher. Zitieren Kant und Montesquieu und flechten da und dort ein lateinisches Sätzchen ein. Dann runzeln sie wieder die Stirn und schütteln die Köpfe ob der Dummheit und Naivität des gemeinen Volkes, das nicht lernen will.
Oh Aufklärung, da sitzt du immer noch, träge, ausgelaugt und schwitzend, fiebrig manchmal, gefüttert mit den kleinen Aufmerksamkeiten deiner Besucher, mit fettem Huhn und gefüllten Pralinen. Die einst blitzenden Augen sind fahl und blass, deine Stimme ist dünner geworden – und brüchig. Du bist müde von den Lügen. So müde.
Diese unerhörte Urkraft des Weiblichen, deine Kraft, die den Schlag auffängt und in Energie umwandelt, diese gewaltige Macht, die schöpferisch ist, aber nie zerstört, dieses offene Denken, das hören und verstehen will, bevor es urteilt und entscheidet. Dieses Denken, das sich allen verschenken, jede erreichen will, das sich gleich einem frühen Sommerregen auf alles niederlegt und befruchtet.
Es ist jetzt Zeit. Wir holen dich da raus, ein für allemal! Damit du deine Kräfte entfalten kannst, diesen Frühling – für immer und ewig!
«Die hohe Zeit der Erbsenzähler – sie ist vorbei.» Februar 2017
Das war im Februar 2017. Damals dachte ich, jetzt, doch, jetzt kommt einiges in Bewegung. Keine Ahnung mehr, was es damals war, das mich mindestens für ein Weilchen etwas positiver gestimmt hatte. Denn tatsächlich bewegte sich nichts. Später hörte ich, jemand habe Aufklärung ein Tablet ins Zimmer geschmuggelt, damit sie sehe, was sich in der Welt abspielt. Aber Aufklärung habe angefangen zu spielen, depressiv und desillusioniert, wie sie war. Sie spiele nur noch ein Spiel, schier Tag und Nacht, ein dummes, dumpfes Solitaire. Mit müden Augen. Wieder und wieder und wieder.
Einmal, nur einmal drang ich zu ihr durch, konnte mit ihr reden. Es sind zu viele, sagte sie. Zu viele, die in meinem Namen reden und doch nur Lügen verbreiten. Die Unfähigkeit zu sagen, „ich habe mich geirrt“, die Unfähigkeit, sich zuzugestehen, dass es nur menschlich sei, Fehler zu machen, den Heilsversprechern aufgesessen zu sein, dies sei ein durch und durch männlich geprägtes Verhalten gewesen. Nur wären heute auch so viele Frauen derart geprägt, dass sie eisern festhielten an ihren Meinungen – und vor allem an sich selbst. Die einen seien gierig, dumm und hörig, die anderen gierig und machtbesessen. «Angst!» Angst, rief sie verzweifelt, das hockt ihnen allen so tief in den Knochen, sie könnten nicht einen Gedanken mehr klar denken. Sie haben Angst und verdecken ihre Angst hinter vermeintlich klugen Reden. Und das alles immer wieder im Namen der Wissenschaft! Ihr seid bescheuert, ihr Menschen!
Sie stopfte sich eine Praline in den Mund und wedelte mit der Hand. Es war so eine Geh-jetzt-endlich Geste. Aber ich mochte nicht ablassen.
Was denn, Aufklärung, fragte ich verzweifelt, was kann man tun? Es könne so doch nicht weitergehen? Was soll die idiotische Frage, gab Aufklärung verärgert zurück. Und nahm sich eine weitere Praline: Vielleicht etwas weniger Bauchgefühl und ab und zu mal das Hirn einschalten? Ich bin schliesslich nur euer Konstrukt, ihr Menschen habt mich erschaffen und gebildet und ihr seid jetzt dabei, mich zu zerstören. Also klemmt euch selber in den Arsch und tut etwas. – Sapere aude*, Himmelarsch! Sie sagte es, fiel in ihre Kissen zurück und schloss die Augen.
Das war im April 2021. Ich war zerschmettert. Im August aber habe ich sie rufen hören. Da spricht eine neue Stimme, noch leise für die Welt, aber trotzdem stark. Vielleicht naht doch Rettung.
Die neue, radikale Aufklärung!
Ich habe noch zu wenig von ihr gelesen, nur ein Essay, Neue radikale Aufklärung», welches auf Deutsch übersetzt ist. Marina Garcés, spanische Philosophin, Professorin an der Universität Saragossa. Mein Spanisch ist dafür noch nicht gut genug und wir können nur auf weitere Übersetzungen ihrer Publikationen hoffen. Das, was ich gelesen und verstanden habe, ist elektrisierend, schafft neue Räume, Denk- und Handlungsräume.
«Im Gegensatzu zum apokalyptischen Dogma und seiner messianischen und solutionistischen Monochronie (Verurteilung oder Rettung) ist der Sinn des Lernens, an einer Allianz von Wissensformen zu arbeiten, die die Skepsis mit dem Vetrauen verbinden. Ich stelle mir die neue radikale Aufklärung wie die Arbeit von unbeugsamen, skeptischen und zugleich vertrauensvollen Weberinnen vor. «Wir glauben euch nicht», sagen wir, während wir von überallher die Fäden der Zeit und der Welt mit unzähligen ausgeklügelten Werkzeugen neu ordnen.»
Marina Garcés könnte der Aufklärung in der Tat neues Leben einhauchen. – Und da ist noch einer, dem ich dies auch zutraue: Markus Gabriel, Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Auch ihm lohnt es zuzuhören. Allem voran aber: Die Zeit der Gurus ist vorbei, endgültig vorbei. Wir können zuhören, diskutieren, abwägen, dazulernen, ständig dazulernen. Aber schlucken, einfach weil es eine vermeintliche Autorität behauptet, das müssen wir nicht. Sapere aude! Wage es, weise zu sein! Und wage es, dich zu äussern.
Neue radikale Aufklärung – Marina Garcés, 2017
*Oder auch im Sinne von Kant: Sapere aude: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.